"Die Menschen haben nicht gelernt, kritisch zu denken" - Interview mit Skeptiker und "Philosoph"

Stephan Angene arbeitet in der IT, der Nürnberger hat nie ein Studium abgeschlossen und sieht sich doch ein wenig als Wissenschaftler und Philosoph. Denn das Denken ist grundlegend in seiner Weltanschauung.
Der 41-Jährige ist immer auf der Suche nach dem, was wahrscheinlich wahr ist. Absolute Gewissheiten gibt es für ihn nicht. Er ist ein Skeptiker. Immer am zweiten Donnerstag im Monat trifft er sich mit Gleichgesinnten der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) in der Sternwarte Nürnberg. Es kommt aber auch vor, dass er Mormonen nach Hause zum Grillen einlädt. Denn: Angene diskutiert gerne.
Im Film "Matrix" gibt es eine Szene, in der sich der Held Neo für eine rote oder eine blaue Pille entscheiden muss. Was bedeutet Ihnen diese Szene?
Stephan Angene: Wenn er die blaue Pille nimmt, bleibt alles, wie es war: Er glaubt, was er glauben will, nichts ändert sich. Mit der roten Pille sieht er die Wahrheit hinter den Dingen, er sieht die Realität, er sieht, dass die Menschen in einer Illusion leben. Das Entscheidende ist, dass er die Wahl hat. Kritisches Denken ist nicht so sehr eine Frage der Fähigkeiten, denn man kann es lernen. Es ist eine Frage der Einstellung. Ist dir egal, ob du dich selbst belügst und ob andere dich belügen, Hauptsache, du fühlst dich wohl? Oder willst du in einer Welt leben, in der du mit der Wahrheit konfrontiert bist? Das ist wie bei der Frage: Möchten Sie, dass man Ihnen sagt, wenn Sie nur noch ein Jahr zu leben haben oder würden Sie es lieber nicht wissen wollen?
Sie würden es genau wissen wollen?
Selbstverständlich. Ich habe die rote Pille gewählt und versuche immer wieder, mich für sie zu entscheiden.
Wieso glauben Sie, dass Sie die Wahrheit erkennen können?
Ich glaube, dass ich mich der Wahrheit annähern kann. Weil ich sie wissen will. Gehen Sie auf eine Party, irgendeiner behauptet: Istanbul hat 50 Millionen Einwohner. Wie viele der Partygäste hinterfragen das? Eigentlich ist es ja egal. Aber ich will es wissen, also nehme ich mir 30 Sekunden Zeit und schaue bei Google nach. Und zwar nicht nur bei einer Quelle. Auch nicht bei 1000: Wenn fünf Quellen ein relativ ähnliches Ergebnis liefern, bin ich erst mal zu frieden. Das ist keine Raketentechnologie. Der Mechanismus funktioniert bei komplexen Fragen genauso. So ungefähr arbeitet Wissenschaft, nur noch strikter. Aber die meisten Menschen hinterfragen nicht.
Die meisten Menschen schätzen sich da aber anders ein ...
Die Menschen glauben, dass sie kritisch sind. Sind sie aber nicht. Weil unser Bildungssystem nicht vermittelt, dass man verschiedene Perspektiven betrachtet, Pro und Kontra und die jeweiligen Belege für Pro und für Kontra. Ab der fünften Klasse sollten Kinder systematisch beigebracht bekommen, wie sie gute Belege zu einer Hypothese finden und wie sie gute von schlechten Argumenten unterscheiden. Oder wie man eine Hypothese widerlegen könnte. Wir neigen als Menschen dazu, den "Bestätigungsfehler" zu begehen, wir suchen oft nur Argumente und Belege, die unsere bestehenden Ansichten bestätigen, und ignorieren alles, was diese nicht bestätigt oder sogar widerlegt. Das ist ein großes Problem. Viele sind nicht in der Lage, wahrscheinlich wahre von wahrscheinlich unwahren Behauptungen zu unterscheiden. Und das hat Folgen.
Schlimme Folgen?
Im Extremfall ein Leben im Wahn. Was man für Wahrheit hält, danach trifft man ja Entscheidungen. Tagträume können entspannend sein, es ist schön, sich vorzustellen, im Lotto zu gewinnen. Wenn man das mit der Realität verwechselt, geht man los und kauft einen Porsche und das hat dann Konsequenzen. Der Realität - in diesem Fall dem Porscheverkäufer - ist egal, ob wir die Wahrheit erkennen oder eine Illusion leben. Das ist wie wenn einer der Meinung ist, dass er fliegen kann und aus dem Fenster springt. An der Realität ändert es nichts. Schlimme Folgen? Wenn Leute ihrem leukämiekranken Kind Globuli geben und das Kind stirbt. Das macht mich wütend und traurig.
Ist alternative Medizin deshalb einer der Hauptkritikpunkte der GWUP?
Alternative Medizin ist wie alternative Fakten: Das gibt es nicht. Das sind dann falsche Fakten. Unwahrheiten. Alternative Medizin werden Dinge genannt, von denen entweder nicht belegt ist, dass sie wirken, oder belegt ist, dass sie nicht wirken. Dann sagen die Leute: Wer heilt, hat recht, Hauptsache es hilft - aber ob es hilft, wissen sie nicht. Es ist wissenschaftlich unmöglich, an einem Einzelfall Ursache und Wirkung herauszufinden. Deshalb gibt es wissenschaftliche Kontrollstudien. Die Mehrzahl der Menschen ist sich nicht im Klaren darüber, wie leicht man sich irren kann. Glauben ist einfach. Vernünftig zu zweifeln braucht Übung. Weil wir nicht so geboren sind.
Wie sind wir denn?
Wir sind nicht auf Erkenntnis von Wahrheit ausgelegt, sondern auf Überleben und Fortpflanzung. Wenn ein Steppenbewohner ein Rascheln im Gras hört, muss er entscheiden, ob er wegläuft. Ein Tiger? Oder doch nur der Wind? Wer zu lange überlegt, überlebt mit geringerer Wahrscheinlichkeit. Wir Menschen sind gut darin, Muster und Zusammenhänge zu erkennen. Aber wir sehen auch welche, wo keine sind. Und das fördert Aberglauben.
Der Skeptiker Guy P. Harrison sagt: Wir alle glauben dumme Dinge. Es kommt nur darauf an, wie dumm und wie viele ...
Wir leben ja nicht auf einer Insel, wir müssen den Planeten teilen. Skeptiker wollen Globuli nicht verbieten. Aber sie sollen raus aus den Apotheken und stattdessen im Grabbelregal der Supermärkte verkauft werden. Wer überteuerten Zucker schlucken will, soll das tun, ohne dass die Solidargemeinschaft es bezahlt. Ich möchte in einer pluralistischen Gesellschaft leben.
Wie stehen Skeptiker zur Religion?
Wenn jemand an Gott glauben will, soll er das tun - auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass Gott existiert. Orthodoxe Kirche und Baptisten, Evangelikale, Mormonen: Allein bei den Christen gibt es so viele Richtungen. Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie die eine wahre Religion erwischen? Sie sind Mitglied einer Religionsgemeinschaft, weil Ihre Eltern es sind, nicht wegen rationaler Kriterien. Und ich möchte mit meinen Steuergeldern keine Bischofsgehälter, Religionslehrer und theologischen Fakultäten finanzieren. Es geht immer auch um gesellschaftliche Folgen.
Welche?
Ich muss mit Menschen in einem Land leben, die AfD wählen. Die Argumente sind grottenschlecht, und trotzdem müssen wir als Gesellschaft die Konsequenzen tragen, weil die Menschen nicht gelernt haben, kritisch zu denken. Sie haben Meinungen. Auch Skeptiker. Ich denke nicht ewig über jede unwichtige Sache nach, die Zeit ist begrenzt. Aber man muss in der Lage sein, zu hinterfragen - auch sich selbst. Auch ich irre mich. Wir wollen nicht anregen, was man denken soll, sondern wie man denkt. Es gibt keine absolute Sicherheit, was wahr ist. Nicht einmal bei diesem Satz.
Knapp zusammengefasst: drei Beispiele für vermeintliche Wahrheiten, die von der GWUP skeptisch betrachtet werden
1. Wahrheit und Astrologie
Astrologie deutet Zusammenhänge zwischen der Bewegung bestimmter Himmelskörper und irdischen Vorgängen. "Was sollen die Planeten außer der Gravitation für einen Einfluss auf uns haben?", fragt Skeptiker Stephan Angene. Astrologen geht es aber ohnehin meist nicht um physikalisch messbare Kräfte, denn diese haben nachweisbar keine Auswirkungen auf unsere Charaktere, Finanzen, Gesundheit oder das Liebesleben. Ist es wahrscheinlich, dass Objekte am Himmel das Schicksal der Menschen widerspiegeln? Astrologen konnten sich bisher nicht auf eine Theorie einigen, die beschreibt, wie die Deutung der Sternenkonstellationen funktioniert. Auch besteht keine Einigkeit darüber, was alles Astrologie ist und was nicht. Welche Sterne betrachtet werden, hat sich auch immer mal verändert. Macht jeder Astrologe seine eigene Astrologie? Wie wahrscheinlich ist sie dann wahr? Kritische Informationen dazu (und Termine der Regionalgruppen) gibt es auch auf www.gwup.org.
2. Wahrheit und Homöopathie
Skeptiker wie Stephan Angene wissen, dass viele Menschen an die medizinische Wirksamkeit von Homöopathie glauben. "Allerdings wissen die meisten gar nicht, was Homöopathie ist." Viele verbinden damit eine sanfte Pflanzenheilkunde, tatsächlich geht es aber darum, zu heilen, in dem der Kranke etwas einnimmt, das die gleichen Symptome hervorruft, die er bereits hat. Tropfen, Globuli, Salben und Lösungen können demnach so gruselige Stoffe enthalten wie Eiter, Quecksilber, Krebszellen, Schlangengift, Küchenschaben, den Speichel tollwütiger Hunde oder auch Hundekot. Keine Angst, nicht der Stoff selbst, sondern der "Geist" soll heilen, deshalb werden die Substanzen einer "Potenzierung" (Verdünnung) unterzogen. "Je mehr der Stoff verdünnt ist, umso wirksamer soll er sein. Das ist Zauberei!" Wie wahrscheinlich ist das? Ist ein Tropfen Meerwasser besonders wirksam, wenn eine Tablette in allen Weltmeeren aufgelöst wird? Skeptiker empfehlen dazu beispielsweise das Buch "Die Homöopathie-Lüge" von Weymayr und Heißmann.
3. Wahrheit und Klimawandel
Es gibt eine Reihe Theorien, die davon ausgehen, dass es den Klimawandel nicht gibt oder dass er nicht vom Menschen verursacht wurde. "Wer das glaubt, ist kein Skeptiker", betont Stephan Angene. "Sondern ein Verschwörungstheoretiker. Er ist unerreichbar für Belege, die seiner Weltanschauung widersprechen." Da werden der Einfluss der Sonnenbahn oder klimatische Veränderungen, die es immer gab, als Argumente herangezogen - und ignoriert, dass sich Wissenschaftler weltweit einig sind, dass es einen menschengemachten Klimawandel gibt. Ein Abgeordneter in den USA trug einen Schneeball in den Kongress, um die globale Erwärmung zu widerlegen. "Der hat den Unterschied zwischen Wetter und Klima nicht verstanden. Verschwörungstheoretiker begehen viele logische Fehler." Um die Plausibilität einer Hypothese zu prüfen ist wichtig, nach objektiven Informationen zu suchen, und zwar an mehreren, glaubwürdigen Stellen - wie der Zeitung.
Kontakt zu den Skeptikern
Die Gruppe trifft sich immer am zweiten Donnerstag im Monat auf der Sternwarte Nürnberg, weitere Infos unter https://www.gwup.org/regionalgruppen/mittelfranken
Stephan Angene schreibt einen Blog: http://www.nachdenken-bitte.de/blog/