Ukraine: Trebgaster Bürgermeister in Sorge um Schwiegereltern

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Das Areal vor der Regionalverwaltung in Charkiw heißt passender Weise Freiheitsplatz. Hier stand Herwig Neumann mit seiner Frau Anna einst beim Besuch seiner Schwiegereltern - vor dem Krieg. Nun ist da ein Trümmerfeld, ein Rauskommen fast unmöglich.
Das Areal vor der Regionalverwaltung in Charkiw heißt passender Weise Freiheitsplatz. Hier stand Herwig Neumann mit seiner Frau Anna einst beim Besuch seiner Schwiegereltern - vor dem Krieg. Nun ist da ein Trümmerfeld, ein Rauskommen fast unmöglich.
Ukrinform/dpa

Herwig Neumann ist in Sorge: Die Schwiegereltern des Trebgaster Bürgermeisters sitzen in der schwer umkämpften Stadt Charkiw fest.

Als Herwig Neumann das letzte Mal auf dem zentralen Svobody-Platz in Charkiw stand, herrschte dort noch geschäftiges Treiben. Menschen gingen zur Arbeit, kauften ein, tranken und aßen, erfreuten sich des Lebens in der Demokratie, knapp 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion. Mit über 40 Universitäten und Hochschulen ist die Stadt im Osten der Ukraine das nach der Hauptstadt Kiew bedeutendste Wissenschafts- und Bildungszentrum. Ein weltoffenes Pflaster.

Das pralle Leben ist mit dem Angriff der russischen Armee vor acht Tagen Chaos und blankem Entsetzen gewichen: Brennende Autos stehen in den Straßen; Häuserfassaden stürzen ein, nachdem Truppen die zweitgrößte Stadt der Ukraine mit ihren rund eineinhalb Millionen Einwohnern unter Artilleriebeschuss genommen haben. Es sind nach Angaben der Stadtverwaltung bereits Dutzende Zivilisten gestorben. Die Plätze sind verwaist, denn die Menschen suchen Schutz in Kellern oder bleiben in ihren Wohnungen. Mitten unter ihnen: die Schwiegereltern von Trebgasts Bürgermeister Herwig Neumann (CSU).

"Die einzige Möglichkeit, Kontakt aufzunehmen, ist über WhatsApp oder Skype - jedenfalls so lange, bis die Stromversorgung zusammenbricht", erzählt er. Erst gestern musste seine Ehefrau Anna erfahren, dass die Universität, in der sie studiert hat, offenbar von einer Granate oder Rakete getroffen wurde. Anna Neumann selbst möchte zur Situation in ihrem Heimatland nichts sagen - aus Sorge, der Aggressor könnte durch ihre Äußerungen womöglich Rückschlüsse auf ihre Eltern ziehen.

Und so versuchen die Neumanns im fernen Trebgast, möglichst viele Informationen aus dem Kriegsgebiet zu erhalten. Den gängigen Nachrichten im Land könne man nicht so ohne weiteres trauen, sagt Herwig Neumann: "Die sind mitunter durchsetzt von Moskau-treuer Propaganda. Aber die Ukrainer haben noch einige andere Plattformen, vor allem in den sozialen Netzwerken, auf denen sie sich austauschen."

Kleines Zeitfenster zur Flucht

Seine Schwiegereltern hatten ein kleines Zeitfenster, um vor der Invasion den Weg in den Westen anzutreten. "Sie haben biometrische Pässe und hätten am nächsten Flughafen sicher in einen Flieger steigen können. Aber sie haben in Charkiw ihre eigene Wohnung und wollten die nicht so mir nichts dir nichts aufgeben. Es ist ja auch die eigene Heimat, die man nicht so einfach verlässt, weil man nicht weiß, wann und ob man je zurückkehrt."

Zum jetzigen Zeitpunkt wäre eine Flucht ein Himmelfahrtskommando. Die Stadt ist umzingelt, laut russischen Medien sogar komplett von der angreifenden Armee eingenommen. Bis zur sicheren polnischen Grenze wären es mehr als 1000 Kilometer durch vom Feind kontrolliertes Gebiet.

Respekt nötigt dem Trebgaster die Widerstandskraft und Kampfbereitschaft der Ukrainer ab. "Gerade die junge Generation weiß es zu schätzen, in einer Demokratie zu leben. Die gilt es zu verteidigen. Die wollen nicht heute in der modernen Ukraine einschlafen und morgen im alten Russland wieder aufwachen, unter einer Marionetten-Regierung von Putins Gnaden, wo man für ein kritisches Wort schon verhaftet werden kann."

Guerilla-Taktik und Häuserkampf

Wie lange sich die Bevölkerung vor Ort dem bis an die Zähne bewaffneten Feind entgegenstellen kann? "Das weiß keiner. Aber man darf es nicht unterschätzen, wenn russische Soldaten sich im Häuserkampf Stück für Stück vorkämpfen müssen. Das kann zermürbend und sehr verlustreich werden. Die Menschen vor Ort verteidigen sich mit einer Art Guerilla-Taktik und verwirren den Gegner, indem sie Straßenschilder abhängen, damit der Feind sich verfährt. Und man hat ja auch schon Bilder gesehen, die zeigen, wie junge Russen ihre Panzer aufgeben, weil ihnen der Sprit ausgeht. Andere geben auf, weil sie nicht gegen ihre Brüder und Schwestern kämpfen wollen. Das hat Putin wohl unterschätzt - und natürlich die Länge der Front: Die Ukraine ist ein großes Land, da muss der Nachschub gesichert werden. Das scheint nicht so zu klappen wie erhofft."

Anna Neumanns Vater weiß, wie es ist, als Soldat zu dienen, wenn auch nicht im Krieg. Der 60-Jährige hat in der Armee der Sowjetunion seinen Dienst verrichtet. "Allerdings wollte er das nicht, aber er musste. In der Familie meiner Frau fühlen sich alle als Ukrainer, nicht als Russen", sagt Herwig Neumann. Dennoch sei der Wunsch nach Demokratie nicht überall gleich stark. Die ältere Generation, die die UdSSR noch kennt und in dieser quasi auf Linie getrimmt wurde, verspüre noch eine Art Nostalgie, wenn es um die gute alte Zeit geht, in der Russland ein großes und bedeutendes Land war. Solche Gefühle, sagt Herwig Neumann, dürfe man nicht unterschätzen, auch wenn die Mehrheit sicher mittlerweile anders denkt. Denn selbst die Russland-Getreuen wendeten sich spätestens seit dem Beginn der Kriegshandlungen von Putin ab. "Sie fühlen sich auch in gewisser Weise von Moskau getäuscht, weil es immer hieß, es sei eine ,Friedensmission'. Die Staatsdoktrin versandet allmählich."

Die Solidarität mit den kriegsgebeutelten Ukrainern sei auch in Trebgast unglaublich. "Mich freut diese Unterstützung sehr und ich bin stolz auf meine Mitbürger", bekundet der Bürgermeister. Es habe bereits private Sammlungen und Hilfstransporte in den Osten gegeben. "Einige Trebgaster haben sich bereit erklärt, privaten Wohnraum für Flüchtlinge bereitzustellen. Das ist großartig!"