Unter welchen Umständen starb die achtjährige Vanessa 2014 im Himmelkroner Freibad? Dazu befragte das Amtsgericht am Donnerstag einen Rechtsmediziner.
Es gibt viele Formen, im Wasser zu Tode zu kommen. Aber was genau war der Auslöser für den tragischen Unfalltod der kleinen Vanessa, die im Juni 2014 im Himmelkroner Freibad in die Tiefe sank und sechs Tage später im Klinikum Bayreuth starb, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben? Und lässt sich aus den Umständen ein mögliches Versäumnis im strafrechtlichen Sinn gegen den wegen fahrlässiger Tötung angeklagten Bademeister sowie eine Betreuerin der Sportgruppe des TSV Himmelkron ableiten? Das versuchte das Amtsgericht Kulmbach unter dem Vorsitz von Richterin Sieglinde Tettmann am vierten Prozesstag zu klären, indem sie den Arzt Peter Betz, Professor am Institut für Rechtsmedizin Erlangen, nach seiner fachlichen Einschätzung fragte.
Der Experte konnte zunächst ausschließen, dass bei Vanessa mögliche organische Anomalien, etwa des Herzens, vorgelegen hätten, die eine andere medizinische Begründung für den Tod des Mädchens liefern könnten. Bei der Sektion des Leichnams sei unter anderem eine Aspirationspneumonie diagnostiziert worden, laut Betz also eine Lungenentzündung, die dadurch ausgelöst werde, dass erbrochener Mageninhalt oder andere Fremdstoffe in die Lunge gelangen und dort eine Entzündungsreaktion auslösen. Dies sei häufige Folge einer Bewusstlosigkeit , aber auch nach einer Reanimation nach einer Herzdruckmassage, wie sie die Betreuerin bei Vanessa nach der Bergung aus dem Wasser vorgenommen hatte. Diese Wiederbelebung soll, so lautet der Vorwurf, angeblich nicht fachmännisch ausgeführt worden sein.
Der Rechtsmediziner betonte, er habe aufgrund des Befundes des Mädchens Zweifel, inwiefern eine von Laien ausgeführte Wiederbelebung mit Mund-zu-Mund-Beamtmung zum Zeitpunkt, als Vanessa aus dem Wasser gezogen wurde, überhaupt noch Wirkung hätte zeigen können. "Wir wissen nicht, wie lange das Kind unter Wasser war. Aber nach gültigem medizinischen Ermessen verursacht nach etwa drei Minuten unter Wasser der entstandene Sauerstoffmangel eine irreversible Schädigung des Gehirns, in diesem Fall sogar des Hirnstamms. Das Aussetzen der Atmung und des Herzschlags sind eine Folge dieser Sauerstoffunterversorgung des Gehirns."
Darauf deuteten unter anderem die vom alarmierten Notarzt geschilderten geweiteten Pupillen hin, die keinerlei Reaktion mehr auf Lichtreize gezeigt hätten. Der Mediziner war zwölf Minuten nach der Alarmierung im Freibad eingetroffen und hatte das Mädchen intubiert. Das hatte zuvor eine Menge halbverdauter Nahrung erbrochen, Stücke davon hatte der Notarzt sogar mit einer Zange entfernen müssen. Die Essensreste könnten die tieferliegenden Lungenbereiche zusätzlich verstopfen und damit die Beatmung erschwert oder gar wirkungslos gemacht haben. "Wenn nicht genügend Sauerstoff in den Körper kommt, lässt sich auch keine stabile Wiederherstellung des Kreislaufs erzielen", sagte er auch mit Blick auf die strafrechtliche Relevanz der Erste-Hilfe-Maßnahmen der Angeklagten.
Dass der Defibrillator, den der Bademeister holte, versagte, habe für die Überlebenschancen Vanessas letztlich keine Auswirkung gehabt. "Man kann zwar das Herz durch mechanische Methoden wieder in Gang setzen, aber das ändert nichts daran, dass das Mädchen zu dem Zeitpunkt bereits eine massive Schädigung des zentralen Nervensystems erlitten hatte - mit all ihren Folgen für den Organimus."
Zur Kernfrage, wie Vanessa überhaupt - und offenbar unbemerkt - auf den Boden des Schwimmbades sinken konnte, sagte Betz: "Im Nachhinein lässt sich nicht mit letzter Klarheit sagen, was der Auslöser war und wie es vonstatten ging. Insofern bleibt auch nicht mehr genau feststellbar, wie lange das Kind tatsächlich unter Wasser war, ehe es an Land gezogen wurde."
Laut Rechtsmediziner sei Vanessa ein Beispiel für ein sogenanntes Beinahe-Ertrinken. Das bedeutet: Der Betreffende stirbt nicht, wie beim gewöhnlichen Ertrinken, sofort oder binnen 24 Stunden, sondern überlebt den Vorfall länger (bei Vanessa wurde der Hirntod nach sechs Tagen diagnostiziert, die Eltern willigten in eine Organspende ein).
"Wir müssen vor allem unterscheiden zwischen typischem und atypischem Ertrinken", sagte Betz. Das typische Ertrinken sei etwa die Folge der Erschöpfung eines (möglicherweise ungeübten) Schwimmers an der Wasseroberfläche. Charakteristisch dafür sei, dass die Person sich merklich gegen das Abgleiten in die Tiefe zur Wehr setze. Dabei würden sich Phasen der Inspiration (Einatmen von Luft ) und Aspiration (Einatmen von Wasser) abwechseln. "Wer in diese Situation gerät, wird alle Energiereserven mobilisieren, die er hat, das kann ich versichern." Allerdings hatten weder die befragten Zeugen noch die beiden Angeklagten geäußert, dass Vanessa einen derart auffälligen Abwehrkampf im Wasser gezeigt habe. Das Mädchen war demnach plötzlich vom Radar der Anwesenden verschwunden.
Insofern komme für den Experten auch das atypische Ertrinken in Betracht. Hierbei gehe die betroffene Person mehr oder minder sofort unter; es finde auch keine relevante inspiratorische Phase, also ein bewusstes mehrmaliges Luftholen an der Wasseroberfläche, statt. Dafür könne es unterschiedliche Ursachen geben, etwa einen sogenannten Stimmritzenkrampf infolge eines Fremdkörpers, durch den sich der Kehlkopf verschließt und das Luftholen fast unmöglich macht. Es könne auch geschehen, dass kaltes Wasser im Nasen-Rachen-Raum Reflexe auslöst, die einen Herzstillstand bewirkten.
Sollte Vanessa aus einem solchen reflektorischen Grund bewusstlos geworden und abgetaucht sein, habe sie aber durch den Atemreflex schließlich Wasser eingeatmet. "Der Körper spürt, dass der Kohlendioxidgehalt im Blut zu hoch wird, und tut das automatisch. Wenn aber die Aspiration von Wasser dominiert, ist zugleich der Erstickungsablauf kürzer als beim typischen Ertrinken. Das auf Sekunden genau zu berechnen, ist freilich nicht möglich." Insofern sei es schwierig, im Nachhinein über zeitliche Korrelationen Auskunft zu geben.
Das bestätigte auch der Arzt, der Vanessa im Klinikum Bayreuth bis zu ihrem Tod betreute. Der Zeuge betonte, die Schwelle zu irreversiblen Hirnschäden beginne ab fünf Minuten ohne Sauerstoffzufuhr. Er gehe davon aus, dass diese Zeit überschritten war, "aber das ist Spekulation". Eine Fehlbehandlung vor dem Einliefern des Mädchens ins Klinikum, etwa beim Setzen des Tubus' zur Beatmung, habe er nicht feststellen können.
Der Prozess wird am 29. März um 10 Uhr fortgesetzt.