Ein Mainleuser kommt nicht raus aus der Ukraine

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"Am Bahnhof herrscht Chaos", sagt Thomas Simmler, der in Marhanez wohnt. Auf unserem Bild versucht ein ukrainischer Soldat die Menschenmenge aufzulösen, die am Bahnhof von Kiew in einen Zug nach Lwiw steigen will.
"Am Bahnhof herrscht Chaos", sagt Thomas  Simmler, der in Marhanez wohnt. Auf unserem Bild  versucht ein ukrainischer Soldat die Menschenmenge aufzulösen, die am Bahnhof von Kiew in einen Zug nach Lwiw steigen will.
Emilio Morenatti/AP/dpa
Thomas Simmler mit Lebensgefährtin Irina und der neunjährigen Tochter Sofia.
Thomas Simmler mit Lebensgefährtin Irina und der neunjährigen  Tochter Sofia.
Thomas Simmler

Der Mainleuser Thomas Simmler sitzt mit seiner Familie weiterhin in Marhanez fest. Am Sonntag hat er bei einer Beerdigung gesehen, dass auch in seiner Stadt der Krieg ganz nah ist.

"Ich will raus aus der Ukraine. So schnell wie möglich." Die Verzweiflung wird bei Thomas Simmler von Tag zu Tag spürbar größer. Die Frage, wie ihm die Flucht gelingen könnte, treibt den 63-jährigen Mainleuser um, der mit seiner Lebensgefährtin Irina und der neunjährigen Tochter Sofia in Marhanez lebt, einer 40.000 Einwohner zählenden Stadt am rechten Ufer des Dnepr in der Region Dnipropetrowsk.

"Dramatische Szenen"

Die Flucht mit dem Auto - Simmler hatte vor zehn Tagen schon ein Taxi geordert - sei lebensgefährlich, sagt der 63-Jährige. Welche Route man nehmen soll, um nicht unter Beschuss zu geraten? Ob es überhaupt Benzin zum Auftanken gibt? "Alles ist ungewiss. Deshalb habe ich die Taxifahrt auch abgesagt, denn ich habe befürchtet, dass wir irgendwo in der Pampa stehen bleiben", erklärt Simmler, dem eigentlich nur die Zugfahrt bleibt, um aus der umkämpften Ukraine in sein sicheres Heimatland Deutschland zu kommen. Am Bahnhof von Marhanez spielten sich aber Tag für Tag dramatische Szenen ab. Hunderte Menschen würden versuchen, sich in ein Abteil zu zwängen. "Wer reinkommt, ist der große Gewinner", sagt Simmler, der den Kampf um einen Platz in einem der wenigen Züge, die in die Stadt kommen, noch nicht aufgenommen hat. Der Mainleuser hat auch schon mit dem Gedanken gespielt, sich mit einem Hilfskonvoi, der aus dem Ausland Lebensmittel und Dinge des täglichen Bedarfs ins Kriegsgebiet bringt, auf den Weg Richtung Deutschland zu machen - auf der Ladefläche eines Lastwagens. "Wenn man nur wüsste, wo und wann man einen solchen Lkw in welcher Stadt antrifft."

"Uns hilft keiner"

Simmler wohnt nur zehn Kilometer Luftlinie entfernt vom größten Atomkraftwerk Europas in Saporischschja, das von der russischen Armee gleich in den ersten Kriegstagen angegriffen und in Beschlag genommen worden ist. Er fühlt sich dort als einer von nicht wenigen Deutschen, die noch in der Ukraine seien, von der Bundesrepublik im Stich gelassen. Die Botschaft in Kiew sei wie das Generalkonsulat in Donezk geschlossen. "Uns hilft keiner."

In Marhanez, das rund 300 Kilometer von der umkämpften Hafenstadt Mariupol und über 500 Kilometer von der Hauptstadt Kiew entfernt ist, sei die Lage nach wie vor ruhig, berichtet Simmler. Doch sei die Angst groß, auch Ziel der russischen Angriffe zu werden.

"Wir verhungern nicht"

Am vergangenen Sonntag hätten das die Einheimischen für kurze Zeit ausgeblendet. Viele seien bei schönen Wetter durch die Stadt flaniert, in der seinen Worten zufolge die Lebensmittel noch nicht knapp werden. "Es gibt wieder Nudeln, auch Fleisch wird in den Läden angeboten", sagt Simmler und stellt fest: "Verhungern werden wir erst einmal nicht."

Von deutscher Hilfsbereitschaft beeindruckt

Der 63-Jährige hält Kontakt zu Familie und Freunden in Deutschland und weiß auch von Fernsehbildern, wie herzlich die Flüchtlinge aus der Ukraine im ganzen Land aufgenommen werden. "Es ist Wahnsinn, wie hilfsbereit die Deutschen sind. Aber auch die Polen. Das ist wirklich vorbildlich."

Die Beerdigung

Gerne würde auch er helfen, wenn er doch nur mit Tochter und Lebensgefährtin nach Deutschland käme. Vor allem für sein Tochter sei die Situation sehr belastend. "Sie hat große Angst", sagt Simmler, der am Sonntag erfahren hat, dass der Krieg auch das Marhanez erreicht hat. Ein 20- und ein 22-Jähriger, die ukrainische Soldaten waren und an der Front gefallen seien, seien unter großer Anteilnahme der Bevölkerung beigesetzt worden. "Wenn man so etwas sieht, dann weiß man, dass der Irrsinn doch schon ganz nah ist."