Sophie Milz hat gute Erfahrungen mit der Wahrheit. "Wenn ich sage, wie es wirklich ist, schimpft niemand mit mir. Also muss ich ja nicht lügen", argumentiert die Zehnjährige.
Nur ehrliche Kinder? Keine Notlügen? Und das sollen wir glauben? Vica Bonet überlegt, und gibt eine "Notlüge" zu. Die Achtjährige war mit ihrer neuen Hose im Sandkasten, trotz ausdrücklichen Verbots der Mutter. "Ich hab dann gesagt, ich bin hingefallen..."
Was sind die schlimmsten Lügen?
Nachdem wir vier Kinder vor uns haben, die von sich sagen, dass sie gerne bei der Wahrheit bleiben, möchten wir nun wissen: "Wie ist das denn, wenn ihr angelogen werdet? Von Eltern oder Freunden?"
"Das geht gar nicht!" sagen alle. Und welche Lügen sind für sie die schlimmsten?
Hagen: "Wenn mir jemand was kaputtmacht und es dann nicht zugibt!"
Vica: "Wenn mir eine Freundin was verspricht und es dann nicht hält."
Vanessa: "Wenn mir jemand was in die Schuhe schiebt, das ich nicht gemacht habe!"
Beim Gespräch dabei ist Hortleiter Andreas Wittmann. Die Fähigkeit zum Lügen nimmt einen großen Teil der psychischen Entwicklung eines Kindes ein, sagt der Erzieher: "Es ist eine kognitive Meisterleistung, ein Erproben der Denkfähigkeit."
Etwa im Alter von vier Jahren entdecken Kinder, dass sie lügen können, und probieren dann aus, wie weit sie damit kommen.
"Bei uns im Hort regen wir natürlich dazu an, die Wahrheit zu sagen. Ob das klappt, ist immer auch eine Frage des Vertrauens. Wir versuchen zu vermitteln, dass man mit Ehrlichkeit am besten fährt, nach dem Motto: Die Wahrheit gewinnt den Marathon, die Lüge nur den Sprint."
Ursachenforschung
Wenn Kinder lügen, hat das Gründe. Und daran sind die erwachsenen Bezugspersonen nicht ganz unschuldig, sagt Elsbeth Oberhammer, Fachbereichsleiterin der Tageseinrichtungen für Schüler bei der Geschwister-Gummi-Stiftung. Seit Jahrzehnten arbeitet die 62-Jährige mit Kindern und weiß: Sie lügen nicht, weil sie lügen wollen, sondern weil sie glauben, damit weiter zu kommen als mit der Wahrheit.
Wer absichtlich und mit Hintergedanken die Unwahrheit sagt, der lügt. Bei kleinen Kindern kann man deshalb nicht von Lügen sprechen, so Oberhammer. "Die haben oft eine ganz andere Wahrnehmung des Geschehenen und erzählen ihre Version." Grundschüler sind kognitiv deutlich weiter. Sie kennen den Unterschied.
"Wenn wir mit Lügen konfrontiert werden, ist es nicht damit getan, die Kinder zu kritisieren", so die Expertin. "Wir Erziehenden müssen uns dann in Frage stellen: Haben die Kinder genug Vertrauen, sind sie sich sicher, dass sie mit allem zu uns kommen können? "
Oft sei mangelndes Selbstwertgefühl der Grund, wenn sich ein Kind beispielsweise Glanzleistungen in der Schule ausdenkt und erzählt, statt von Misserfolgen und Fehlern zu berichten. "Dahinter steht der Wunsch, das Bild von sich zu verändern. Weil das Kind sich nicht angenommen fühlt, Ansprüchen genügen will."
Außerhalb der Familie sieht das Verhaltensmuster dieser Kinder ganz ähnlich aus: Sie überlegen sich Ausreden, um die Lehrerin oder den Trainer im Sportverein milde zu stimmen und Strafe zu vermeiden.
Welche Rolle spielen Vorbilder in Sachen Wahrheit? "Die sind das A und O", sagt Elsbeth Oberhammer. "Kinder lernen am Modell. Das ist die nachhaltigste Form des Lernens. " Wenn ein Kind seine Eltern beim Lügen ertappt, zum Beispiel gegenüber Kollegen oder Verwandten, hat das zwei negative Effekte. "Zum einen fragt sich das Kind, ob die Eltern ihm vielleicht auch manchmal nicht die Wahrheit sagen. Und es denkt, dass es gar nicht so schlimm ist, anderen die Unwahrheit zu erzählen. Die Eltern machen es ja auch..."
Mit Vorwürfen an die Kinder sollten Eltern vorsichtig sein, rät die Expertin. Statt zu schimpfen, sollten sie versuchen herauszufinden, warum sie die Wahrheit verdreht haben. "Kinder lügen, weil sie sich in einer seelischen Zwangslage befinden, in einer Situation, die für sie bedrohlich wirkt, weil sie mit negativen Konsequenzen wie Strafe oder Liebesentzug verbunden ist. Ohne diese Angst haben sie die Lügen nicht mehr nötig."