Seit zehn Jahren betreibt Olga Engelmann in Kronach eine Ballettschule. Engelmann ist als Deutsche in Kasachstan geboren, seit 1999 lebt sie in Kronach. Vom Gefühl, deutsch zu sein und doch nicht dazuzugehören.
In Russland, sagt Olga Engelmann, da musst du nicht anrufen, da hast du Zeit, kommst vorbei, setzt dich an den Tisch und dann wird Tee getrunken. Die Deutschen, so dachte sie, sind ruhig, besuchen einander nicht einfach, gehen um neun ins Bett. Sie war schon eine Weile in Deutschland, da bekam sie einen Anruf von einer deutschen Freundin. Abends, um halb elf. "Kann ich vorbeikommen", hatte die Freundin gefragt und Engelmann hatte geantwortet: "Na freilich" und gedacht: "Die Deutschen gehen doch nicht alle um neun ins Bett."
Blätter, so rot wie der Vorhang
Olga Engelmann, 56 Jahre alt, sitzt auf einem einfach Holzstuhl in ihrer Tanzschule, trägt einen schwarzen, dünnen Pullover zur schwarzen Hose, an den Füßen weiße Ballettschuhe.Hinter ihr trennt ein dunkelroter Vorhang den Ballettraum vom kleinen Büro.
1999 kam Engelmann als Russlanddeutsche aus Kasachstan nach Deutschland und das erste, was sie sah, waren die Blätter der Bäume: "Sie leuchteten rot, violette - wie der Vorhang", sagt sie und zeigt hinter sich. "Es war wie in einem Märchen". In Kasachstan besteht ein Großteil der Landschaft aus Steppe: braun, beige, wenig grün und rot schon gar nicht.
"Ich bin geborene Deutsche", sagt Olga Engelmann. Ihr Mädchenname ist Kunz. Als sie '99 nach Deutschland kam, dachte sie, sie komme nach Hause. Und dann war alles anders. Das Land, die Menschen, die Sprache: "Ich habe gedacht ich bin Deutsche - und dann komm' ich her und merke, ich bin keine Deutsche."
Die erhoffte Heimat war ihr fremd. In Kasachstan hatte ihre Oma ihr alle Grimmschen Märchen vorgelesen, ihre ersten Worte waren auf deutsch, in der zehnten Klasse lernte sie zum Teil noch neue russische Worte kennen. Hier war das gesprochene Deutsch plötzlich anders.
Engelmann sagt "abseia", wenn sie absieben meint, "kukumbra", wenn sie Gurke meint. Die Omas ihrer Ballettschülerinnen verstehe sie, die sprechen das gleiche, alte deutsch wie sie. Modernes Deutsch und Behördensprache, bereiten ihr noch heute Probleme. Die Anmeldung ihrer Schülerinnen beim Schützenfest sei jedes Jahr aufs neue eine Herausforderung für sie.
Als Olga Engelmann nach Deutschland kommt, will sie mit dem Tanzen nichts mehr zu tun haben, über 20 Jahre war sie in Russland erst selbst Balletttänzerin, später Lehrerin gewesen.
Sie wollte in einem Betrieb arbeiten, an ihrem ersten Arbeitstag musste sie Glühbirnen einschrauben. "Es war eine Katastrophe", sagt sie.
Sie verstand nicht, was die Leute von ihr wollten und die Leute verstanden sie nicht. Obwohl sie eigentlich die gleiche Sprache sprachen.
Zweieinhalb Jahre hat sie für eine Leiharbeitsfirma am Band gearbeitet, dann bekam sie eine Venenthrombose, wurde operiert, konnte nicht mehr lange stehen.
In einem Integrationsprogramm für Russlanddeutsche begann sie dann Frauen in Ballett zu unterrichten. Sie beginnt, sich Ballettschulen in der Gegend anzusehen, sie denkt: "Das kann ich besser". Nicht so viel "hip, hop, alle springen, alle freuen sich", mehr "klassisches Ballett". 2005 macht sie sich selbstständig.
Als sie vor zehn Jahren ihre Ballettschule gründete, wollte sie alles auf deutsch machen. Sie kaufte sich ein Buch mit Fachtermini, lernte die deutschen Ballettbegriffe. Am Anfang war es hart, die Kinder lachten, auf russisch wäre alles schneller gegangen.
Engelmann hat es durchgezogen. Knapp Hundert Schülerinnen hat sie heute.
"Hier nähe ich Tag und Nacht und wenn ich nicht nähe, dann bereite ich Musik und Tänze vor", sagt sie.
Das Leben hier ist härter, aber es ist das Leben, das sie liebt, das sie immer wollte. "Mir gefällt alles in Deutschland", sagt sie. Dann lacht sie: "Außer mein Lohn." In Russland habe sie mehr verdient. "Viele verstehen nicht, dass wir Deutsche sind. Verstehen nicht, wie sehr die Russlanddeutschen in den letzten 200 Jahren gelitten haben." Die Russlanddeutschen, sagt sie noch, kommen nach Deutschland mit Liebe - nicht wegen Hunger oder Geld.