"Showdown": Wie der Sport einer blinden Stockheimerin Kraft gibt

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Ein gut gepolsterter Handschuh schützt die Schlaghand beim "Showdown" vor dem harten Rasselball. Diesen im gegnerischen Tor unterzubringen, beherrscht Mandy Herrmann inzwischen so gut, dass sie es bei den bayerischen Meisterschaften auf den siebten Platz schaffte. Foto: Marian Hamacher
Ein gut gepolsterter Handschuh schützt die Schlaghand beim "Showdown" vor dem harten Rasselball. Diesen im gegnerischen Tor unterzubringen, beherrscht Mandy Herrmann inzwischen so gut, dass sie es bei den bayerischen Meisterschaften auf den siebten Platz schaffte. Foto: Marian Hamacher
Würfel, deren Augenzahlen ertastbar sind, ermöglichen Herrmann und ihrem Freund Daniel Kugel auch Teilnahmen an Spieleabenden. Foto: Marian Hamacher
Würfel, deren Augenzahlen ertastbar sind, ermöglichen Herrmann und ihrem Freund Daniel Kugel auch Teilnahmen an Spieleabenden. Foto: Marian Hamacher
 

Seit einem Autounfall vor 13 Jahren ist Mandy Herrmann blind. Wie die Stockheimerin aus einer besonderen Sportart Kraft schöpft.

Es klingt wie der Beginn eines schlechten Sketches. "Was haben Sie denn heute im Angebot", fragt die Kundin in der Bäckerei. "Ja was wollen Sie denn?", kommt die Antwort von der anderen Seite der Theke. Die Kundin runzelt die Stirn und schaut leicht irritiert. "Dann hätte ich gern' einen Döner." Es ist kein Sketch. "Die Läden sind austauschbar. Ich nenne bei solchen Fragen oft einfach ein Produkt, das sie bestimmt nicht haben. Erst dann merken sie, dass ich ihre Frage gar nicht beantworten kann", sagt Mandy Herrmann - die Kundin. In einer Zeit des gepflegten aneinander Vorbeiredens sicherlich ein eher harmloses Beispiel. Mehren sich solche Situationen jedoch, kann schon eine harmlose Nachfrage zu einem kleinen Nadelstich werden - der von Mal zu Mal schmerzhafter wird.

Ein Anstecker mit drei schwarzen Punkten auf gelbem Grund sowie ein Langstock in Herrmanns Hand machen es deutlich: Sie ist blind. "Ich nehme es hin, wenn solche Fragen kommen, versuche es zu überspielen, aber es tut schon weh", erzählt die 34-Jährige.

Erst kürzlich habe sie plötzlich auf der anderen Seite der Straße gestanden. Hinübergeführt von einem aufmerksamen Passanten. Eine nette Geste. "Allerdings wollte ich dort gar nicht hin", sagt sie. Freche Antworten wie in der Bäckerei sind ihre Art damit umzugehen, dass andere nicht wissen, wie sie mit ihr umgehen sollen. Ein Problem, das sie selbst kennt. Vor 13 Jahren musste sie neu lernen, wie sie mit ihrem Körper umgehen soll. Denn nicht immer war Herrmann blind.


Acht Wochen im Koma

Dass es ihr zwischenzeitlich an Selbstbewusstsein zu mangeln schien, ist der jungen Frau - blonde, lange Haare, kleine Narbe auf der Nase - nicht anzumerken. Selbst wenn sie über den schwersten Tag ihres bisherigen Lebens spricht, huscht ab und zu ein ansteckendes Lächeln über ihr Gesicht. Es scheint eine große innere Ruhe auszustrahlen. Doch dorthin war es ein weiter Weg. Er begann im Juni 2002. "Ich hatte meinen freien Tag", sagt Herrmann. Es war der letzte, an dem sie etwas sah. Als sie ihren damaligen Freund in die Berufsschule fahren wollte, sei plötzlich ein Kleintransporter auf ihren Wagen zugekommen. Daran erinnern kann sich die Stockheimerin nicht, die fehlenden Informationen lieferte der Polizeibericht. Der Transporter hatte auf der Gegenfahrbahn offenbar überholen wollen, sich verschätzt und einen Zusammenstoß verursacht.

Mit schweren Kopfverletzungen fuhr der Krankenwagen ihren Freund ins Krankenhaus, Herrmann hatte es noch heftiger erwischt. Gesicht, Rücken, Beine. Unter anderem. Polytrauma nennen es Ärzte, wenn gleich mehrere Körperregionen verletzt sind. "Weil auch ihre Niere betroffen war, hing sie zudem an der Dialyse", erinnert sich Herrmanns Mutter Silvia Heymann. "Die Ärzte haben uns zunächst nichts gesagt. Das war schon schwer auszuhalten."

Acht Wochen dauerte es, ehe ihre Tochter wieder zu Bewusstsein kam. "Beim Unfall sind Splitter direkt in die Augen gelangt und haben die Verbindung des Sehnervs zum Hirn getrennt", erklärt Mandy Herrmann. "Das hat man mir gleich einen Tag, nachdem ich aufgewacht bin, erzählt."

Richtig realisiert habe sie die Diagnose aber nicht. "Für mich habe ich noch gesehen", sagt die 34-Jährige. Erst ein Vierteljahr und schon erste Blindenkurse später sei es ihr in der Erlanger Augenklinik wirklich bewusst geworden: "Der Tag war für mich fast noch schlimmer als der des Unfalls. Mir wurde bewusst, dass ich nie wieder sehen kann. Ich wollte es nicht glauben und habe den Arzt angeschrien."


Verzögerung aus dem Startblock

Aufhalten lassen wollte sie sich davon aber nicht, stattdessen lieber wieder an das Tempo anknüpfen, das sie vor dem Unfall angeschlagen hatte. Erst vier Monate bevor der Kleintransporter sie auch in der Lebensplanung aus der Spur warf, hatte Herrmann ihre Ausbildung zur Hotelfachfrau abgeschlossen und eine Stelle in der Kurklinik Bad Rodach angenommen. "Ich wollte gerade ins Leben durchstarten", sagt Herrmann. Aus den Startblöcken kam sie dennoch, wenn auch in einer anderen "Disziplin" - und mit einiger Verzögerung. Epileptische Anfälle und zahlreiche Reha-Aufenthalte hielten Herrmann nicht davon ab, die Punktschrift zu erlernen und sich zur Telefonistin umschulen zu lassen: "Nach sechs Jahren wollte ich einfach wieder arbeiten."

Ein Job war schnell gefunden: Die deutsche Rentenversicherung wollte sie gerne in ihrem Team haben. In Karlsruhe. Die Arbeitsbedingungen habe sie sich nicht besser wünschen können, die Lebensbedingungen dagegen schon. "Die Wege waren mir unbekannt und ich musste mich enorm konzentrieren. Da war ich schon fix und fertig, bevor ich auf der Arbeit war", erinnert sich Herrmann eher ungern an ihren Abstecher nach Baden-Württemberg.


Aus schwarz wird rosarot

18 Monate dauerte es, ehe sie wieder einen Gang zurückschaltete. Eine Woche Arbeit in Karlsruhe, eine Woche Freizeit in Franken. "Das war zwar etwas besser, aber nicht sonderlich viel", sagt Herrmann. Jeder Morgen habe mit Tränen der Verzweiflung und Erschöpfung begonnen. "Es war sicher keine gute Idee, meine Antidepressiva selbst abzusetzen", sagt sie im Rückblick. "Aber ich war immer gegen Tabletten, die haben einfach alles immer gut aussehen lassen." So schnell aus schwarz rosarot wurde, drehte sich der Effekt auch wieder um. Die Quittung folgte 2014. "Ich merkte lange vorher, dass es nicht mehr ging, dachte aber dennoch, dass es mir gut geht."

Erst nachdem ihre Mutter sie für drei Wochen in einer Psychiatrie unterbrachte, sei der Groschen gefallen. "Diesen Anstoß hatte ich gebraucht", sagt sie und greift nach der Hand ihres Freundes Daniel Kugel, der neben ihr am Esstisch ihrer gemeinsamen Wohnung sitzt. Noch im Jahr ihres Zusammenbruchs lernte sie ihn beim von ihr mitorganisierten Blindenstammtisch in Lichtenfels kennen. Der 30-Jährige leidet an einer Störung des Sehfeldes, die bis zur Erblindung führen kann. "Schon einen Monat später hat er mir einen Heiratsantrag gemacht", sagt Herrmann. In Venedig. "Da konnte ich gar nicht ,nein‘ sagen." Folgen soll die Trauung im kommenden Jahr auf der Kronacher Festung.


Aggressionen loswerden

Eine regelmäßige Arbeit lassen die anhaltenden Schmerzen im Rücken nicht zu. Seit drei Monaten erhält Herrmann daher eine Erwerbsminderungsrente. Konzentrieren will sich die Stockheimerin demnächst nicht nur auf gemeinsame Reisen mit ihrem Daniel, sondern auch auf ihre neue große Leidenschaft: Showdown. Die Sportart für Blinde ist eine Mischung aus Airhockey und Tischtennis.

Mit einem länglichen Schläger muss ein Ball im gegnerischen Tor untergebracht werden, der anfängt zu rasseln, sobald er sich in Bewegung setzt. Denn verlassen dürfen sich die Spieler nur auf ihr Gehör. Herrmann kann dies inzwischen so gut, dass es für den siebten Platz bei den bayerischen Meisterschaften reichte. Spielen dürfen auch Sehende, die aber einen Sichtschutz tragen müssen. Herrmann liebt den Sport seit ihrem ersten Aufschlag: "Da kann man seine Aggressionen wunderbar loswerden."