Am 24. November 1989 rollten die ersten Trabis von Spechtsbrunn nach Tettau. Heinrich Gehring vom damaligen Straßenbauamt Kronach hatte in wenigen Tagen für eine Straße auf fremdem Staatsgebiet gesorgt. Er berichtet - auch in einem Video -, wie schwierig das war.
Die Geschichte ist unglaublich, aber wahr: Da baut eine bayerische Behörde, ohne bei der vorgesetzten Dienststelle nachzufragen, auf fremdem Staatsgebiet und ohne Pläne, geschweige denn Baugenehmigung, eine Straße. Und alle freuen sich über diese Aktivitäten. Nachts werden die Baumaschinen vorsichtshalber wieder auf bayerisches Gebiet geschafft, weil man ja nicht weiß, wie die Lage am nächsten Morgen beurteilt wird. Die Ereignisse überschlagen sich, es wird Weltgeschichte geschrieben.
So geschehen vor fast 25 Jahren zwischen Tettau und Spechtsbrunn. Heinrich Gehring, damals stellvertretender Leiter des Straßenbauamts Kronach, erinnert sich an diese denkwürdige Zeit, als die Grenzübergänge wie Pilze aus dem Boden schossen. Die am 9. November 1989 verkündete Reisefreiheit für die DDR-Bürger musste so schnell wie möglich umgesetzt werden.
Die damals vorhandenen knapp ein Dutzend Übergänge zwischen der DDR und der Bundesrepublik genügten der Reiselust der Menschen aus der DDR keineswegs. "Zuerst wurden die Bundesstraßen, die durch die Grenzziehung unterbrochen waren, wieder reaktiviert", erinnert sich Gehring. Dann kamen die wichtigen der Staatsstraßen dran. Auch da wurden die früher bedeutenden Verbindungen wieder geöffnet. Den Leuten konnte es nicht schnell genug gehen, die Bauarbeiter waren quasi Tag und Nacht auf Achse.
Die Landräte karteten das aus
Die Straße zwischen Tettau und Spechtsbrunn wäre eigentlich nicht in diese für den Reiseverkehr wichtigen Verbindungen gefallen, denn es gab ja die Übergänge Falkenstein, Burggrub und Welitsch.
Einst stellte diese Staatsstraße eine wichtige, weil flach ansteigende Verbindung zwischen Pressig, Heinersdorf, Schauberg, Tettau und Gräfenthal dar. Der Vorsitzende des Rates des Kreises Neuhaus am Rennweg (Landrat) wollte wenigstens einen Straßenübergang nach Westdeutschland haben. Denn für ihn gab es bis dato keinen. Also setzte er sich mit dem damaligen Kronacher Landrat Werner Schnappauf in Verbindung. Der war einem weiteren Grenzübergang im Frankenwald natürlich nicht abgeneigt.
"Aber schnell sollte alles gehen", blickt Heinrich Gehring zurück. Mit einem Hubschrauber des BGS flogen die Landräte und Heinrich Gehring nach Tettau, um den Straßenverlauf aus der Vogelperspektive zu sondieren.
Von Tettau bis zur Grenze gab es eine ordentliche Straße, denn ein ehemaliger Straßenbauamtschef hatte an die Wiedervereinigung geglaubt und dafür gesorgt, dass die Straßen bis zur Demarkationslinie auf Frankenwaldareal in Ordnung waren.
Nur ein Asphaltmischwerk
Aber was war auf DDR-Gebiet los? Dort war die Straße im Bereich des ehemaligen "Todesstreifens" herausgerissen worden. Der Verlauf der einstigen Straße war auch aus der Luft nicht zu erkennen. Auf einer alten Postkarte im Archiv des Marktes Tettau war der Straßenverlauf jedoch gut nachzuvollziehen. Also konnte an die Umsetzung gegangen werden. Von Seiten der DDR wäre der Straßenbau nicht schnell genug zu bewältigen gewesen, denn es gab nicht genug Maschinen und pro Bezirk nur ein Asphaltmischwerk. Folglich halfen die Kronacher Bauleute aus.
In der Nähe des künftigen Grenzübergangs war eine leistungsfähige Baufirma tätig. Die wurde kurzerhand an die Grenze beordert, Verträge für die Bauleistungen vor Ort in Handschrift abgeschlossen - und schon konnte es losgehen.
Der Zeitplan, den man sich steckte, war abenteuerlich. Am 19. November war der Hubschrauberflug, am 24. November wollte man nachmittags den Übergang öffnen. Auch das war den Politikern zu lang. Hinter dem Rücken der Straßenbauer vereinbarten sie eine Öffnung für Freitag früh, 6 Uhr. Das war den DDR-Leuten recht, denn sie suchten bei den Öffnungen den Schutz der Dunkelheit. Heinrich Gehring fand einen Kompromiss: Die Politiker durften den Übergang um 6 Uhr öffnen, aber er stellte kurz nach Tettau einen Lastwagen quer, damit keiner an die Grenze fahren und die Bauarbeiter gefährden konnte.
Minister hielten sich raus
Wenn Heinrich Gehring an diese denkwürdigen und arbeitsintensiven Tage zurückdenkt, staunt er auch heute noch, was vor 25 Jahren innerhalb weniger Tage möglich wurde. "Wir haben auf dem Territorium eines anderen Staates Steuergelder der Bundesrepublik ausgegeben", verdeutlicht er die skurril anmutende Situation. "Es konnte kein bayerischer Politiker sagen, ,baut auf DDR-Gebiet eine Straße‘", verwies Gehring darauf, dass die Verantwortung auf die unteren Ebenen der Kreise und Kommunen abgeschoben wurde. Und keiner wusste, ob die Vorgaben und Versprechen des Vortags am nächsten Morgen noch Gültigkeit hatten.