(Noch immer) auf dem Abstellgleis

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Sport gehört für die Bewohner des Flößerhofs St. Nepomuk, wie dem 23-jährigen Felix, zum Alltag dazu. Andrea Driesch leitet das Wohnheim für Menschen mit dem Prader-Willi-Syndrom. Foto: Sandra Hackenberg
Sport gehört für die Bewohner des Flößerhofs St. Nepomuk, wie dem 23-jährigen Felix, zum Alltag dazu. Andrea Driesch leitet das Wohnheim für Menschen mit dem Prader-Willi-Syndrom.  Foto: Sandra Hackenberg

Obwohl sie unter dem Prader-Willi-Syndrom leiden, möchten die Bewohner des Flößerhofs an der Gesellschaft teilhaben.

Rohes Fleisch, Abfälle und Verdorbenes zu essen - eine Vorstellung, bei der wohl selbst bei den meisten Menschen, die unter einer Essstörung leiden, Ekel aufkommen würde. Doch das ist der Dämon, gegen den die Bewohner des Flößerhofs St. Nepomuk Sozial gGmbH in Marktrodach jeden Tag aufs Neue ankämpfen.

"Sie haben kein Sättigungsgefühl und würden ewig weiteressen - bis zur Magenruptur", beschreibt Hausleiterin Andrea Driesch den unkontrollierbaren Drang ihrer Schützlinge. Es ist das auffälligste Merkmal der Menschen mit dem sogenannten Prader-Willi-Syndrom (PWS).

Im Flößerhof St. Nepomuk leben derzeit 28 Menschen im Alter zwischen 17 und 51, die an dem seltenen Gendefekt leiden. "Gelegentlich gibt es Wechsel, aber theoretisch können die Menschen ihr Leben lang hier wohnen", erklärt Driesch. Weil die Menschen ihren Drang nach Essen praktisch nicht selbst steuern können, müssen sie ständig beaufsichtigt werden. "Diese Menschen haben einen besonderen Bedarf, den ihre Familien meist nicht decken können."

Häufig sei das mit dem Eintritt der Pubertät der Fall - eine Zeit, in der unkontrollierte Wutausbrüche der Betroffenen zunehmen. "Es kommt häufig vor, dass Lebensmittel entwendet werden", berichtet Driesch. "Darum müssen alle Nahrungsquellen weggeschlossen werden.

Hausverbot im Supermarkt

Doch selbst das hält die Betroffenen meist nicht auf. "In den meisten Supermärkten in der Umgebung haben einige unserer Bewohner inzwischen Hausverbot. Wenn sie dort nichts mehr bekommen, betteln sie auch schon mal bei den Nachbarn." Ein Bewohner beispielsweise sei sehr geschickt darin, per Anhalter von A nach B zu kommen. "Der stellt sich draußen auf die Straße, hält den Daumen raus und wurde auch schon häufig mitgenommen."

Hinzu kommt, dass PWS-Betroffene zwar liebenswert, aber auch selbstbezogen sind. "Zuerst sehen sie sich selbst und ihre Bedürfnisse", erklärt Driesch. Wenn diese nicht erfüllt oder Absprachen aus ihrer Sicht nicht eingehalten werden, können sie schon mal impulsiv oder mit unkontrollierten Wutausbrüchen reagieren. Davon zeugt auch manche Wand mit Löchern im Flößerhof, wo mal Bilder hingen. Die meisten Familien der Betroffenen sind über kurz oder lang mit Situationen wie diesen überfordert - meist mit Eintritt der Pubertät.

So war es auch bei Meltem, deren Eltern und Geschwister in Rheinland-Pfalz leben. "Hier habe ich mich eigentlich ganz gut im Griff, weil es einfach keine Versuchungen gibt", erzählt die 21-Jährige, angesprochen auf ihr Essverhalten. "Doch wenn ich zu Hause bin, ist es schwer, weil meine Geschwister viel essen - obwohl meine Mutter daheim alles weggeschlossen hat."

1400 Kalorien für alle

Im Flößerhof bekommt jeder Bewohner die gleiche Portion: 1400 Kalorien am Tag, verteilt auf drei Haupt- und vier Zwischenmahlzeiten. Fleisch gibt es nur einmal pro Woche, das Team setzt auf viel Gemüse und wenig Kohlehydrate. "Die tägliche Kalorienzufuhr ist reduziert, weil sie einen langsameren Stoffwechsel als andere Menschen haben und sehr schnell zunehmen würden", klärt Driesch auf.

Sport in kleinen und großen Gruppen ist ein wesentlicher Bestandteil des Alltags im Flößerhof. "Ich mag das Laufband nicht besonders", gibt der 23-jährige Felix aus dem Schwarzwald zu. "Aber ich mache trotzdem mit." Ob es ihm hier gefällt? - "Ja, ich bin gerne hier."

Was bei Felix auffällt: Obwohl die meisten Bewohner an Übergewicht leiden, ist der junge Mann schlank. "Nicht alle Bewohner sind adipös, aber viele", erklärt die Leiterin. "Häufig kommen aufgrund des enormen Übergewichts noch andere Erkrankungen wie Diabetes hinzu."

Zwar wird das Essverhalten der Bewohner von den 31 Mitarbeitern im Flößerhof ständig kontrolliert. "Doch wir sperren hier niemanden ein - und leider können wir nicht verhindern, dass sich jemand draußen Essen besorgt. Die laufen dann auch mal kilometerweit bis zum nächsten Supermarkt." Bei Regelverstößen drohen reflektierende Gespräche und Konsequenzen, was manche der Betroffenen aber nur bedingt davon abhält.

Viele von ihnen unterliegen deshalb starken Gewichtsschwankungen. Als Meltem vor vier Jahren in den Flößerhof eingezogen ist, hat sie innerhalb eines Jahres 30 Kilo abgenommen. Dann jedoch hat Meltem eine schulische Ausbildung absolviert und aufgrund der damit verbundenen Versuchungen außerhalb der betreuten Wohnform wieder schnell zugenommen: "Mein Ziel ist es, wieder mein altes Gewicht zu erreichen, weil ich häufig Fuß- und Rückenschmerzen habe - und ich glaube auch, dass ich das schaffe."

Werkstatt ist überfordert

Ein großes Problem sei auch, wenn die Bewohner in der Behindertenwerkstatt in Kronach arbeiten: "Dort können sie sich relativ schnell entziehen, weil sie nicht die ganze Zeit beaufsichtigt werden. Dann gehen sie zum Supermarkt nebenan." Inzwischen sind laut Driesch einige Bewohner von der Werkstatt freigestellt worden, "weil die dort einfach nicht die besondere Betreuung leisten können, die Menschen mit PWS benötigen".

Trotz der vielfältigen Sport- und Freizeitaktivitäten im Flößerhof kämen viele Bewohner auf dumme Ideen, wenn diese feste Tagesstruktur wegfällt. Der Drang nach Essen wird dann noch größer - ein Teufelskreis.

Wie Driesch schildert, gibt es für dieses Problem derzeit noch keine Lösung: "Das Bundes-Teilhabe-Gesetz war ein Paradigmenwechsel. Doch vor allem für Menschen, die aufgrund einer geistigen Behinderung - anders als etwa bei Geh- oder Sehbehinderten - sehr betreuungsintensiv sind, gibt es wenig Möglichkeiten, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen."

Die meisten PWS-Betroffenen würden nur über einen niedrigen bis sehr niedrigen Intelligenzquotienten verfügen - Bewohner wie Meltem sind die seltenen Ausnahmen, die unter der Situation leiden. Trotz Realschulabschluss und abgeschlossener Ausbildung zur Sozialpflegerin regnet es bei der Jobsuche nur Absagen. "Es heißt, sie hätten keine Stelle frei", erzählt die junge Frau. "Aber ich gebe nicht auf, bis ich eine Stelle gefunden habe."

Theoretisch sind laut Driesch einige Menschen mit PWS durchaus in der Lage, stundenweise arbeiten zu gehen. Für die meisten Betriebe - und leider auch die Werkstatt in Kronach - komme das aber noch nicht in Frage - oder sie können die zusätzliche Betreuung schlicht nicht leisten.

Inklusion weit entfernt

"So lange ich diese Einrichtung leite, werde ich dafür kämpfen, dass sich das bessert", verspricht Driesch, die jedoch realistisch bleibt: "Von Inklusion brauchen wir die nächsten 20 Jahre nicht reden."

Bis es so weit ist, will sie noch mehr Beschäftigungsmöglichkeiten im Heim, wie in der Wäscherei und der Küche, schaffen. "Es ist wichtig, dass diese Menschen Dinge tun, die ihr Selbstbewusstsein stärken und ihren Alltag lebenswert machen." Denn auch, wenn die Bewohner im Flößerhof viele Wünsche und Träume haben: Die meisten werden für immer Träume bleiben.

"Manche denken, dass, wenn sie abgenommen haben, sie irgendwann alleine leben können. Doch das wird nicht passieren. Sie werden ihr Leben lang auf Begleitung im Alltag, in ihrem Leben, angewiesen sein", weiß die Hausleiterin. Doch was würde es bringen, diese Träume zu zerstören?

Info: Das Prader-Willi-Syndrom

Häufigkeit Der Gendefekt tritt statistisch bei einem von 15 000 bis 20 000 Menschen auf.

Ursache Der Defekt wird durch ein unvollständiges oder nicht funktionales Chromosom vom Vater vererbt. Die gesunden Väter wissen vorher nicht, dass sie das Gen haben.

Vererbung Nur bei einem Prozent tritt der Gendefekt zweimal innerhalb einer Familie auf.

Symptome unstillbarer Appetit, massives Übergewicht (darum häufig Diabetes), unvollständige sexuelle Entwicklung, Entwicklungsverzögerung, häufig Kleinwuchs, kleine Hände und Füße, leicht bis stark verminderte Intelligenz und Verhaltensprobleme.