Der Markt Tettau feiert in diesem Jahr das 500-jährige Bestehen. Fast 100 Jahre davon verbrachte Gerta Gertloff in der Rennsteiggemeinde. Sie ist die älteste Bürgerin.
Als die 99-jährige Ururoma - sie feiert im April 2015 ihren 100. Geburtstag - als viertes von sieben Kindern geboren wurde, regierte noch der Kaiser. Erst drei Jahre lagen die 30 Wochen andauernden Streiks zurück, die in der Fabrik von Christian Hammerschmidt nicht zuletzt wegen ungenügender Bezahlung und schlechten Arbeitsbedingungen geführt wurden.
Die Arbeiterschaft war damals in Tettau organisiert, die Gemeinde eine sozialdemokratische Hochburg. Zwölf Jahre war es her, dass Tettau von Pressig-Rothenkirchen her aus an das Hauptverkehrsmittel Bahn angebunden wurde.
Von diesen Zuständen bekam Gerta Gertloff noch nichts mit. Sie erinnert sich in ihrer Wohnung an ihre Kindheit. "Wir hatten Schweine und Ziegen und wir waren glücklich, wenn wir nach der Schule durch die Gegend ziehen durften".
Sie gerät ins Stocken, um weiter zurückzudenken an damals, an ihr Leben in Tettau. "Ich bin in einer anderen Welt aufgewachsen. Viele Vorstellungen von Anstand, Fleiß und Ordnung waren anders." Sieben Jahre drückte sie die Schulbank, um anschließend als Arbeiterin in der Glashütte im Tettaugrund (heute Gerresheimer Tettau) ihr eigenes Geld zu verdienen.
Abertausende Flaschen verpackt Wie viele tausend Flaschen sie während ihres Berufslebens eingepackt hat, daran kann sie sich nicht erinnern. Aber: "Es war die reinste Akkordarbeit!" Am Anfang ihrer Berufstätigkeit wurden die Flaschen in Stroh eingewickelt, später in Wellpappe und Kisten. Entlohnt wurde wöchentlich, der Samstag war ein Arbeitstag.
Als sie mit 20 Jahren ihren Kurt heiratete, konnte sie nicht wissen, dass ein Weltkrieg bevorstand, der ihr nicht nur für einige Jahre ihren Mann nahm, sondern aus dem auch vier Geschwister nicht mehr zurückkommen sollten. "Es herrschte nur Trauer in unserer Familie, aber wir waren nicht die Einzigen."
Gerta Gertloff hält für einen Moment inne. Ihre Gedanken schweifen zurück. Es gab während der Kriegsjahre Monate, in denen die gesamten Dorfbewohner in schwarzer Trauerkleidung zu sehen war. Während dieser Zeit musste sie - ähnlich wie viele andere Frauen - ihre beiden Kinder alleine durchbringen. Früh in die Glashütte, mittags kochen, nachmittags Glashütte - dazu die Angst um ihren Mann und Trauer um ihre Geschwister.
Einweckgläser als Tauschware Ihre Gedanken gehen weiter zu den Nachkriegsjahren. Sie spricht von den Tauschgeschäften, die sie getätigt hat. Damals gab es keine Kühl- und Gefrierschränke, es wurde viel eingekocht. Als Mitarbeiterin der Glashütte hatte sie das Privileg, an Einweckgläser heranzukommen. Diese wurden bei den sogenannten "Hamstergeschäften" eingetauscht für Nahrung, Obst, erklärt sie und dabei huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. "Ich bin viel gelaufen, war auch oft mit der Bahn unterwegs!"
Noch gut kann sie sich daran erinnern, als unmittelbar nach dem Krieg russische Soldaten in Tettau weilten. "Die mochten Schnaps und Tabak!"
Die Leute sind während dieser Zeit näher zusammengerückt. Nahezu jede Familie hatte Verluste hinnehmen müssen. Viele mussten einen Neuanfang starten. Anfang der 50er-Jahre ist schließlich das kulturelle Leben in Tettau erwacht. Es gab Tanzsäle in Tettau, Kleintettau und der Alexanderhütte. Es gab ein Kino und viele Wirtshäuser. "Die waren voll!"
In den Glashütten gab es die ersten Vollautomaten. Unternehmen entstanden, die Einwohnerzahlen stiegen. Bauplätze waren rar. "Was waren wir glücklich, als wir 1955 einen Bauplatz gefunden hatten und uns ein eigenes Haus bauen konnten!"
Drei Häuser auf DDR-Gebiet Sie erzählt weiter von der alten Straße zum Rennsteig, von der Bahn, von den drei Häusern, die Ende des 19. Jahrhunderts am Nordrand von Kleintettau gebaut wurden, auf Lichtenhainer Grund standen und somit zum Herzogtum Sachsen-Meinungen gehörten. In einem dieser Häuser war eine Gastronomie.
Diese drei Häuser waren schließlich 1962 Thema im Zentralkomitee der SED - denn dieser Zipfel gehört zur DDR, doch bewohnt wurden sie von Tettauer Bürgern. Zwei Eigentümer verließen aus Angst verschleppt zu werden, ihre Häuser.
"Wir waren plötzlich von der Welt abgeschnitten!" Staunen, Angst und Fassungslosigkeit herrschte, als Anfang der 50er-Jahre Tettau von der Bahnlinie abgetrennt wurde. "Wir waren plötzlich von der Welt abgeschnitten!"
Bis zu ihrem 60. Lebensjahr verpackte Gerta Gertoff Flaschen, erst in der Glashütte Tettaugrund, später Tettauer Glashüttenwerke AG (jetzt Gerresheimer). Jetzt lebt sie zusammen mit ihrem 78-jährigen Sohn Gerhard und dessen Frau Helene gegenüber der Kirche in Kleintettau.
Bald zweifache Ur-Uroma Heute geht sie nur noch selten durch den Markt Tettau. "Ich bin schließlich nicht mehr die Jüngste" meint sie. Aber sie weiß, gerade in der Zeit hat sich einiges bewegt, hier in Tettau. Ein Lieblingsort, an dem sie sich gerne aufhält, ist das Glascafé, "da war ich mit meiner Urenkelin Michaela schon zweimal!". Als nächstes Ziel steht das Tropenhaus an. Glücklich ist sie, wenn sie mit ihren Nachkommen zusammen sein kann. Immerhin sind das ihre zwei Kinder, drei Enkel, sieben Urenkel und bald zwei Ur-Ur-Enkel.
Bei der Frage, ob sie denn nie daran gedacht hat, Tettau verlassen, schüttelt sie den Kopf. "Hier ist es schön, hier bin ich geboren, hier will ich sterben!" Und sie lacht: "Schließlich bin ich ein kleiner Teil Tettauer Geschichte!"