Stockheim beschreitet neue Wege. Langsamere Wege, denn als erste Kommune im Landkreis hat sie den Autofahrern in weiten Teilen des Gemeindegebiets ein Tempolimit von 30 Stundenkilometern verordnet. Nicht alle freuen sich darüber.
Andrea Schramm wohnt in der Bergwerkstraße in Stockheim. Ihre beiden kleinen Kinder ohne Aufsicht in der Nähe der nahe gelegenen Straße spielen lassen: unmöglich. Ihr Mann, in dessen Elternhaus Familie Schramm heute wohnt, wurde an dieser Stelle als Kind von einem Auto angefahren. Inzwischen sind viele Jahre vergangen, gebessert hat sich in Andrea Schramms Augen allerdings wenig: "Das war hier wie eine Rennstrecke", erzählt sie. Sogar der nur 300 Meter lange Weg in den Kindergarten wurde auf der engen Straße zur Nervenprobe: "Wenn mit 50 Sachen ein Auto an einem vorbeifährt, mag das im Sommer noch gehen, wenn im Winter am Rand aber Schnee liegt wird es schwer." Einmal hätte sie ein Lastwagen "fast erwischt", erzählt sie. Mit ihren beiden Kindern landete sie in einem Schneehaufen. Genug, dachte sie sich - die Autos müssen hier zumindest langsamer fahren.
Sie sammelte Unterschriften und schrieb im Sommer vergangenen Jahres einen Antrag an den Stockheimer Gemeinderat.
Schramms Antrag blieb nicht der einzige. Insgesamt fünf schriftliche und zwei mündliche Anträge landeten im vergangenen Jahr im Rathaus. Das, sagt Bürgermeister Rainer Detsch (Freie Wähler), sei Auslöser dafür gewesen, in der Gemeindeverwaltung über eine große Lösung nachzudenken - obgleich schon vorher rund "30 Prozent der Ortsteile mit Tempo-30-Limits belegt" waren. Im März gab der Gemeinderat grünes Licht für das Konzept, das die Gemeindeverwaltung gemeinsam mit der Polizeiinspektion Kronach erarbeitet hatte.
Vollbremsung bei Tempo 80 oder 60? Auf Bundesstraßen und Staatsstraßen hat sich an der erlaubten Höchstgeschwindigkeit nichts geändert.
Lediglich Gemeindestraßen sind davon betroffen und auch hier könne von einem flächendeckenden Ausbau keine Rede sein, sagt Detsch. Die Straßen, auf denen der überregionale Verkehr fließt, seien nicht betroffen. Außerdem hätten die Planer darauf geachtet, dass die Straßen, auf denen nun langsamer gefahren werden muss, auf beiden Seiten mit Häusern gesäumt sind. Auch Ortsdurchfahrtstraßen sind davon betroffen. "Den Anliegern ging es tatsächlich darum, dass man Bereiche mit einbeziehen soll, die im Kernbereich der Ortschaften sind", sagt Detsch.
Georg Papstmann, zuständig fürs Verkehrswesen bei der Polizeiinspektion Kronach, war in die Planung der Gemeinde Stockheim eingebunden.
"Ich bin zuversichtlich, dass man so erreichen kann, dass die Leute langsamer fahren." Nach dem Gesetz müssten Autofahrer innerorts 31 Kilometer pro Stunde zu schnell fahren, um ihren Führerschein für einen Monat zu verlieren. Das sind 81 Kilometer pro Stunde. In einem Tempo-30-Bereich hätten bereits 61 Stundenkilometer diesen Effekt. Einige Autofahrer würden sich bewusst nah an diese Grenzen herantasten. "80 oder 60 Sachen, das macht bei einer Vollbremsung einen großen Unterschied", betont Papstmann.
Auch Bürgermeister Detsch denkt so, geht aber noch einen Schritt weiter. "Es geht auch um die Familien- und Seniorenfreundlichkeit unserer Gemeinde.
Dazu gehört eine Entschleunigung." Alte wie junge Leute sollen sicher in Stockheim leben können und weder durch Krach noch Abgase belästigt werden.
"Finde das übertrieben" Seitdem die 38 neuen Verkehrsschilder aufgestellt wurden, gilt allerdings auch auf den Ortsdurchfahrtstraßen wie in Burggrub eine Höchstgeschwindigkeit von 30 Kilometern pro Stunde. Genau das ärgert Gemeinderatsmitglied Michael Schießwohl (CSU). Er wohnt selbst in Burggrub, doch das sei nicht der Punkt. Auch ihm sei klar, dass die Bremswege kürzer sind, wenn man langsamer fährt. Dennoch: "Ich finde das übertrieben", sagt er. Die Straße durch Burggrub sei ohnehin sehr eng. Wer vernünftig sei, behauptet Schießwohl, fahre dort ohnehin langsam. "Man sollte sich selbst nicht so einschränken." Dabei lehnt er die zusätzlichen Tempo-30-Bereiche nicht grundsätzlich ab.
"In Wohnbereichen und wo rechts und links der Straße Häuser sind, kann man durchaus auf Tempo 30 reduzieren." Wo das aber nicht der Fall ist, hätte an der Höchstgeschwindigkeit nicht gerüttelt werden sollen. Deswegen sei er eines von fünf Gemeinderatsmitgliedern gewesen, die im März gegen das Konzept gestimmt haben.
Ja, sagt Detsch, "es gibt sicher Bereiche, in denen man 100 oder 150 Meter Tempo 50 fahren könnte". Das habe aber zur Folge, dass ständig Gas gegeben und dann wieder gebremst wird. Genau das wolle er verhindern. Recht machen könne die Gemeinde es ohnehin nicht jedem. Obwohl die meisten Rückmeldungen bisher positiv seien. Er sei sogar schon von Anwohnern gefragt worden, weshalb in deren Straße noch immer Tempo 50 erlaubt ist. Er werde das prüfen, verspricht Detsch.
Gleichzeitig verhehlt er nicht, dass "sich der ein oder andere kritisch geäußert hat, weil er etwas länger unterwegs ist".
Polizist Georg Papstmann rät abzuwarten, wie sich die Situation entwickelt. Bürgermeister Rainer Detsch hofft jedenfalls, dass sich alle an das neue Tempolimit halten. "Für mich hat das eine Appellfunktion: Leute, Ihr bewegt Euch in einem Wohngebiet - fahrt doch bitte vernünftig."
Auch Andrea Schramm hofft, dass die Autos langsamer durch ihr Wohngebiet fahren - obwohl sich noch nicht alle Autofahrer an das neue Tempolimit hielten.
ist das meist-missverstandene Verkehrsthema der aktuellen Zeit.
Einerseits wünschen sich die Bürgern in ihren Wohngebieten und Dörfern Tempo 30, andererseits weigern sich die Politiker Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit einzuführen.
Regelgeschwindigkeit bedeutet hier nur, dass automatisch innerorts Tempo 30 gefahren werden muss, wenn nicht die Stadt/Gemeinde an den Durchgangsstraßen und Hauptverkehrsachsten Tempo 50 Schilder aufstellt. Wir kehren also die momentane Situation um und schaffen dadurch mehr Sicherheit für alle und mehr Ruhe für die Anwohner.
In England habe ich gesehen, daß in Wohngebieten keine Vorfahrtsstraßen ausgewiesen sind, sondern links vor rechts gilt. Das hat zur Folge, daß jeder von selbst langsam fährt, weil an jeder Kreuzung die Vorfahrt beachtet werden muß. Da gibt's kein Gemecker und keinen Frust und kein Fahren-bis-zur-Führerschein-Entzugsgrenze. Und billig ist es außerdem: nur Schilder entfernen und ggf. Fahrbahnmarkierungen ändern.
in echten Tempo-30-Zonen ist Rechts-vor-Links durch die deutsche StVO gesetzlich vorgeschrieben. Eben genau aus dem Grund, den Sie beschrieben haben. Man muss aufmerksamer fahren und mehr auf andere Verkehrsteilnehmer achten.
In Großbritannien läuft übrigens gerade eine große Kampagne "Twenty's Plenty". Auf gut deutsch: "20 Meilen/Stunde sind mehr als genug". Hier geht es darum Tempo 30 eben in den genannten Gebieten auch als Höchstgeschwindigkeit fest zu schreiben, da die eine Maßnahme (rechts vor links) eben nicht ausreicht.
Hier die Website der Verkehrssicherheitsorganisation für West-Schottland:
http://roadsafetywestscotland.com/twenty
Und die Erinnerung, dass es nicht um die Nachtruhe von Eigenheimbesitzern geht, sondern um Menschenleben:
Hit a child at 40mph and 9 out of 10 will die.
Hit a child at 20mph and 9 out of 10 will live!