Eckhard Schneider: "Ich möchte den Finger in die Wunde legen"

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Eckhard-Joey Schneider hat mit den Jahren gelernt, wie er dem täglichen Stress entkommen kann. Foto: Marian Hamacher
Eckhard-Joey Schneider hat mit den Jahren gelernt, wie er dem täglichen Stress entkommen kann. Foto: Marian Hamacher

Im Interview erklärt der Kronacher Betriebsseelsorger, worin er seine Hauptaufgaben sieht und was ihm auch nach 25 Jahren noch immer den Schlaf raubt.

Kühl ist es. Angenehm kühl. Während die Mittagssonne den Innenhof des Kronacher Oblatenklosters immer weiter aufheizt, lässt es sich in Eckhard-Joey Schneiders Büro gut aushalten - der isolierenden Wirkung der historischen Wände sei Dank. "Und im Winter habe ich es schön warm, weil die Heizung gleich nebenan ist", sagt Schneider. Im September ist es bereits ein Jahrzehnt her, dass der Pastoralreferent für die Erzdiözese Bamberg als Betriebsseelsorger nach Kronach kam. Doch der 59-Jährige ist nicht nur für den hiesigen Landkreis, sondern auch für Kulmbach und Bayreuth zuständig, wenn es darum geht, Menschen in der Arbeitswelt zu unterstützen.

Fürs Sommerinterview mit infranken.de schlüpft Schneider, der im seelsorglichen Gespräch oft der Zuhörer ist, in die ungewohntere Rolle des Erzählenden. Eine Tradition möchte er dennoch nicht ändern: Die Kerze auf dem Tisch.
"Die gehört für mich in jedem Gespräch dazu", sagt er lächelnd und greift nach einem Streichholz. "Mein Motto lautet, dass es besser ist, eine Kerze anzuzünden, als über die Dunkelheit zu schimpfen."

Gibt es denn gerade viel Dunkelheit, über die zu schimpfen wäre?
Eckhard Schneider Obwohl wir derzeit kaum Arbeitslosigkeit haben, sind die Arbeitsbedingungen extremer geworden. Es hat sich auf dem Arbeitsmarkt ein krebsartiges Geschwür breit gemacht. Sichtbar wird es in Scheinselbstständigkeit, Werkverträgen, Befristungen oder Praktikanten, die zu schlechten Bedingungen arbeiten. Und dass der Mindestlohn eine gerechte Bezahlung ist, bezweifele ich!

Vor ihrer Zeit in Kronach waren Sie schon 15 Jahre in gleicher Funktion in Kulmbach. Gab es damals dieselben Themen oder haben sich diese verändert?
Nicht verändert, sondern verschärft. Das macht mich schon nachdenklich, denn letztlich arbeite ich seit meinem ersten Arbeitstag vor allem an einem Thema: Gerechtigkeit. Und ich sehe durch die gerade beschriebenen Beispiele ganz deutlich, dass die Spaltungstendenzen in der Gesellschaft deutlicher werden.

Und was sind die positiven Aspekte, die sich verändert haben?
Die Qualität in der Betriebsrätearbeit und das Bewusstsein für dieses Engagement hat zugenommen. Außerdem ist das Miteinander von Kirche und Gewerkschaft auf einem guten Niveau und wir sind als Betriebsseelsorger zum kompetenten und geschätzten Gesprächspartner für die Beschäftigten geworden.

Wie würden Sie Ihre Arbeit denn beschreiben. Als Seelsorger für Firmen?
Ich bin bisweilen "nur" der Seelsorger für den Betriebsrat oder sogar "nur" für dessen Vorsitzenden. Der will, ähnlich der Beichte, zweimal im Jahr ein Vier-Augen-Gespräch, um seinen Ballast los zu werden. Berufliche und familiäre Verantwortung sind manchmal zu viel. Dann braucht man eben einen zum Zuhören und zum Auskotzen. Ich bin da natürlich zur Verschwiegenheit verpflichtet.

Mit welchen Themen werden außerdem konfrontiert?
Unter anderem mit betriebsseelsorglichen mit dem Schwerpunkt auf Mobbing oder bei Sucht-Thematiken. Dann versuche ich, alle betrieblichen Akteure, also Betriebsrat, Suchtberater, Betriebsarzt und Personalabteilung, gemeinsam an einem Tisch zu bringen. Für diese sogenannten weichen Themen finde ich viel Anerkennung und Verständnis. Schwerer tun sich manche Kirchenleute, wenn ich bei Streikaktionen, Demos oder 1. Mai-Kundgebungen das Wort ergreife und unser Wirtschaftssystem hinterfrage.

Es heißt, in den Pfarreien werden die Gläubigen immer weniger. Sieht es in den Firmen anders aus?

Auf den ersten Blick hat einiges von meiner Arbeit nichts mit dem Glauben und der "großen" Theologie zu tun. Viele Beschäftigte sagen ganz offen, dass sie mit Religion und besonders mit der Institution Kirche nicht viel anfangen können, suchen aber trotzdem mit mir das Gespräch. Das geht dann von Fragen der Kindererziehung, dem Generationenkonflikt mit der Wertefrage über Ehekrise bis hin zum möglichen Jobwechsel. Voraussetzung dafür ist aber, dass die Menschen einen kennen, Vertrauen finden und wissen, dass ich es gut mit ihnen meine.

Wie gelingt Ihnen das?
Die regelmäßige Teilnahme und Mitwirkung bei Betriebsversammlungen sind wie ein Türöffner für die Herzen der Menschen. Dort habe ich ein größeres Auditorium als sonntags in der Kirche. Das Feedback spüre ich unmittelbar an den Reaktionen oder einen Tag später - etwa an der Kasse des Supermarkts, wenn ein Arbeiter mich anspricht und sagt: "Ich glaube, unser Chef hat gestern den Kopf eingezogen bei dem, was Sie gesagt haben." Den Ton und den Inhalt zu treffen, ist nicht immer leicht, denn es setzt voraus, die Leute und deren Anliegen zu kennen.

Wann haben Sie das zuletzt festgestellt?
Ganz aktuell im Fall von British American Tobacco in Bayreuth. Von 1400 Jobs sollen dort 950 abgebaut werden. Aktuell bin ich mehrmals pro Woche vor Ort, um in Absprache mit Personalleitung und Arbeitnehmervertretung seelsorgliche Gespräche zu führen. Die Menschen kennen mich von Begegnungen, die teilweise zehn Jahre zurückliegen, und der Betriebsrat, mit dem ich seit Jahren Teamentwicklungsseminare veranstalte, ermutigt die Beschäftigten, die Chance mit mir zu nutzen. Nur so geht "Kirche heute".

Das klingt aber auch anstrengend. Können Sie bei so vielen Einzelschicksalen einfach abschalten?
Früher habe ich gesagt: "Betriebsseelsorger bin ich rund um die Uhr - ein Leben lang." Im Prinzip ist das auch so, aber es ist wichtig, dass ich auch mal meinen Chip rausnehme, wenn ich nach Hause gehe. Das habe ich früher nicht gekonnt. Abschalten zu können, ist in diesem Beruf lebensnotwendig!

Wie lernt man das?
Meditieren in seiner Vielfalt und Regelmäßigkeit. Und dennoch schließt es nicht aus, dass ich zwei, drei Nächte nicht mehr schlafen kann, weil ich mich hilflos fühle und an meine eigenen Grenzen stoße.

Das kommt auch nach fast 25 Jahren noch vor?
Leider ja. Als ich die erste Woche bei BAT war, hat selbst meine Familie gemerkt, wie stark ich unter Druck stehe. Die vielen Gespräche und die ganzen Schicksale; das ist schon sehr belastend. Da laufen die Leute gleichsam nachts im Traum vorbei. Sie erzählen vom Haus - und du weißt, das Haus ist nicht mehr zu halten. Und du vermutest, dass diese Ehe nicht in den schweren Tagen hält. Wohin dann mit meiner eigenen Ohnmacht, Hilflosigkeit und Wut?

Hilft der Glaube in diesen Momenten?
Um zu leben, ja zu überleben, musst du genau wissen, welches Gottesbild dich trägt. Für mich ist es der personale, menschenfreundliche Gott, der besonders den Kleinen und Schwachen seine Zusage gegeben hat. Das ist mein tiefer Glaube. Ich lese jeden Tag im Brevier, dem kirchlichen Stundenbuch, Psalme und biblische Ermutigungstexte. Und ich merke, dass mir das gut tut. Mein biblischer Glaube ist bodenständig und geerdet durch die täglichen Erfahrungen.

Hat sich Ihr Glaube durch Ihren Beruf verändert?
Er hat sich verändert. Meine Frau sagt, dass ich früher in der pfarrgemeindlichen Arbeit weicher war. Auch der Glaube den ich im "gut katholischen, bürgerlichen" Elternhaus gelebt und erlebt habe, unterscheidet sich doch durch meinen Blickwinkel mit dem Fokus Arbeitswelt.

Inwiefern?
Mein Vater war Lektor, Kirchenchorleiter und Kirchenpfleger. Kirche war immer ein großes Thema. Nicht nur als Ministrant habe ich Kirche und Gottesdienst sehr positiv erlebt - fast barock. Aber es war ein konservativer, also ein bewahrender Glaube. An der Uni haben mir die 68er-Professoren meinen kindlichen Glauben dann fast zerschlagen. Das war schon heftig. Es war eine sehr politisch-prophetische Akzentuierung von Religion. Kirchlicher Glaube bewegt sich zwischen Gotteserfahrung und Weltverantwortung und muss immer quer zur Gesellschaft stehen. Das ist auch das Credo in meiner Arbeit als Betriebsseelsorger.

Und was ist Betriebsseelsorge für Sie?
Wie im Gleichnis vom barmherzigen Samariter will ich im Einzelfall die Wunden verbinden, aber auch meinen Finger in die Wunde legen. Und so frage ich, wie es zu der Räuberei kommt.

Also die Systemfrage?
Ja. Soziale Marktwirtschaft sehe ich in Deutschland nicht. Nicht mehr. Da werden auch nur Sozial-Pflästerchen ausgeteilt und wir opfern diesem Götzen "Markt" alles. Vor allem das Kostbarste: unsere Zeit.

Ist Burnout davon die Folge?
Da ist immer die Frage nach dem Drehmoment-Schlüssel. Wann ist etwas überdreht? Burnout ist ein Thema, über das heute zumindest gesprochen wird. Die Drucksituation wird immer größer. Sich immer nur an Leistung zu orientieren, fördert dieses Burnout. Das ist ein regelmäßiges Thema, das mir auf Betriebsversammlungen zugespielt wird. Viele merken, dass sie das Schräubchen überdreht haben. Mittlerweile sind Personalleitungen und Arbeitnehmervertretungen sensibel für das Thema Betriebsklima und die Verantwortung, die sie hierfür tragen.

Schreiben Sie das auch ihrer Arbeit zu?
Ich bin vorsichtig mit dem, was ich mir auf die Fahnen schreiben kann. Ich will etwas dazu beitragen, dass man in diesem Bereich hellhöriger und nachdenklicher wird. Es ist schon mein Eindruck, dass Unternehmensleitungen sich auch bei Betriebsversammlungen nicht so weit aus dem Fenster lehnen und vorsichtiger formulieren, wenn ich dabei bin.

Bekommen Sie Erfolgserlebnisse mit?
Das ist manchmal so wie bei den zehn Aussätzigen, die Jesus geheilt hatte: Nur einer kam zurück und sagte danke. Auch das ist leider ein Stück meiner Wirklichkeit. Es scheint so, als ob die Karawane weiter zieht, wenn ein Problem geklärt ist - ohne Rückmeldung. Manchmal, eher zufällig, trifft man sich wieder und erfährt, wie mancher seelsorglicher Satz hilfreich war. Damit muss ich leben. Umso mehr zehre ich im Augenblick von einer überraschenden E-Mail, die mich und meine Arbeit lobt. Davon lässt es sich bis zum Herbst gut leben.

Haben Sie ihren Beruf einmal bereut?
Ich kann dankbar sagen: Der Beruf ist mein Leben. Betriebsseelsorge ist ein Stück von mir. Früher wollte ich wieder in die Pfarrei zurück, wo ich ja herkam Nun bin ich aber froh, dass ich keinem Pfarrer zugeordnet bin, sondern direkt dem Domberg unterstehe. Es ist eine freie Arbeit, ich kann selbst entscheiden und kann meine Fähigkeiten einsetzen. Die Gefahr der Selbstausbeutung ist größer als bei einer 40-Stunden-Woche, aber damit lebe ich gut. Denn meine Frau, ohne die dieses Arbeitsleben nicht möglich wäre, bremst mich schon ein. Zudem spüre ich Rückendeckung durch meinen Erzbischof und unser Betriebsseelsorge-Team. Trotz der Freude merke ich aber, dass ich zunehmend an meine Belastungsgrenzen komme.

Wie reagieren Sie dann?
Zuletzt war ich für zehn Tage in Südbayern und hatte nur meine Malsachen dabei. Nicht einmal ein Buch. Ich habe nur gemalt und Kindern, die immer wieder gekommen sind, einen kleinen Malkurs mit Aquarell und Stiften gegeben. Das war klasse, entspannend und erholsam.

Hat die Malerei Ihnen schon immer dabei geholfen, Stress abzubauen?
Kunst war immer schon meins, aber mit den Jahren ist der Mal-Aspekt wieder stärker geworden. Heute sind Malen und Jagd meine Rettungsanker in der Hektik. Früher war das der Fußball, es gab kein Wochenende ohne. Der 1. FC Stockheim ist mein Verein, "auf Kohle geboren" hieß für mich: ablaufen, grätschen, Schiedsrichter beleidigen (lacht). Als Vorstopper war ich ein unangenehmer Spieler, der sich alles erarbeiten musste. Aber seit ich 50 bin, ist das vorbei. Das Knie ist kaputt. So hat alles seine Zeit - und ich lebe gerne im Jetzt!

Das Gespräch führte Marian Hamacher