Warum wird überhaupt kastriert und was ist eigentlich "Ebergeruch"?
Millionen männliche Ferkel werden hierzulande jährlich kastriert – bisher meist ohne Betäubung. Das wird sich in knapp zwei Jahren ändern: Ab Januar 2021 darf nur noch unter Voll- oder Teilnarkose kastriert werden. Aber warum schneidet man den Tierbabys kurz nach der Geburt überhaupt die Samenleiter durch? Ganz einfach: Weil ihr Fleisch keinen „Ebergeruch“ entwickeln soll, denn sonst ließe es sich in Deutschland und vielen anderen Ländern nicht verkaufen.
Sobald ein männliches Schwein geschlechtsreif wird, erzeugt sein Hodengewebe vermehrt Androstenon, eine der beiden Hauptkomponenten für den Ebergeruch. Gleichzeitig tritt im Dickdarm verstärkt Skatol auf, das ebenfalls für den strengen Duft verantwortlich ist. Beides wird im Fettgewebe eingelagert, aber auch mit dem Speichel des Ebers ausgeschieden. Menschen nehmen Ebergeruch sehr unterschiedlich wahr. Empfindliche Personen beschreiben Androstenon als schweiß- bis urinartig. Fast jeder empfindet den Geruch von Skatol als unangenehm und fäkalienartig.
Nur drei bis fünf Prozent aller männlichen Schweine würden ohne Kastration einen „Ebergeruch“ entwickeln, schätzt Dr. Peter Lindner, Leiter des Lehr-, Versuchs- und Fachzentrums für Schweinehaltung in Schwarzenau. Trotzdem werden fast alle Tiere vorsichtshalber kastriert. „Jeder Lebensmitteleinzelhändler hat Angst, dass es mal bei ihm 'stinkendes Fleisch‘ geben könnte und dass der Ruf dann schnell ruiniert wäre. Das Risiko will man nicht eingehen“, erläutert Dr. Stefan Berenz, Leiter des Fachzentrums Schweinezucht und -haltung am Landwirtschaftsamt in Würzburg. Lindner und Berenz diskutierten kürzlich im Rahmen der bayerischen Schweinefachtagung mit Tierärzten, Schweinezüchtern und Vertretern des Fleischerzeugerrings über das Thema. Fazit: Derzeit entwickelt sich einiges im Bereich Ferkelbetäubung vor der Kastration. Berenz selbst hat im Rahmen seiner Ausbildung zahlreiche Ferkel kastriert. Er erklärt die bisherige Praxis: Der Schweinezüchter nimmt die Ferkel einzeln hoch, fixiert die Hinterbeine mit der Hand und schiebt mit dem Daumen die Hoden hoch. Dann wird die Haut mit einem kleinen Schnitt geöffnet, der Hoden hervorgeholt, der Samenleiter durchtrennt und der Hoden entfernt. „Das dauert 20 oder 30 Sekunden. Die Ferkel zucken kurz zusammen. Danach suchen sie Trost am Gesäuge der Mutter.“
Ab 2021 darf nur noch mit Betäubung kastriert werden – so hat es die Bundesregierung kürzlich entschieden. Seitdem ist eine rege Diskussion im Gange: Reicht eine lokale Anästhesie oder braucht es eine Vollnarkose? Was ist weniger schlimm für die Ferkel? Wobei haben sie weniger Angst?
„Die Gestelle mit den Atemmasken für die Vollnarkose sehen erst mal seltsam aus“, sagt Berenz, während er das Foto dreier Ferkel zeigt, die festgeschnallt in Plastikkästen auf dem Rücken liegen, die Beine sind in die Luft gereckt und die Köpfe stecken in Atemmasken. „Hier bleiben die Ferkel beim Kastrieren regungslos.“ Bei der Lokalanästhesie, die wir Menschen vom Zahnarzt kennen, sind die Tiere bei Bewusstsein und wehren sich laut Berenz teilweise gegen das Festhalten. „Jede Methode hat ihre Vor- und Nachteile“, fasst Peter Lindner zusammen. „Es wird gerade intensiv geforscht, beide Methoden werden weiterentwickelt und ausprobiert. Bis Anfang 2021 wird sich noch einiges tun.“
Ganz auf Kastration verzichten wird man nach Lindners Meinung so schnell nicht – auch wenn das Fernziel laute: „Keine körperlichen Eingriffe mehr am Tier.“ Für Eberfleisch gebe es derzeit nur einen sehr begrenzten Markt, etwa in England und den Niederlanden beziehungsweise für bestimmte Wurstsorten. Die aktuellen Tierwohl-Debatten führen jedoch mancherorts zu einem Umdenken.
Hoffnungen macht auch die Forschung: „In den Besamungsstationen gibt es einige Eberlinien, die weniger Geruch vererben“, berichtet Dr. Peter Lindner. „Vielleicht gelingt es ja irgendwann, den Ebergeruch über die Zucht wegzukriegen.“