Heidingsfeld: Scham, Angst, Betroffenheit

5 Min
Viele Menschen haben sich am Dienstagmittag im Würzburger Kiliansdom eingefunden, um für die Opfer des Amoklaufs von Würzburg-Heidingsfeld und deren Angehörige zu beten.
Foto: Theresa Müller

Der Tag danach. Nach dem Amoklauf von Heidingsfeld. Es gibt neue Erkenntnisse. Neue Forderungen. Neue Ängste. Und neue Fragen. Wie junge Flüchtlinge und ihre Betreuer im Landkreis auf den Amoklauf reagieren.

Der Attentäter von Heidingsfeld stammte wahrscheinlich nicht aus Afghanistan – und war älter als 17 Jahre. Wie kann es dann sein, dass er zwei Jahre lang als Unbegleiteter minderjähriger Flüchtling (UmF) in Ochsenfurt untergebracht war? Laut Bernd Adler, Leiter des Sozialen Dienst im Landkreis, unterscheidet sich das Vorgehen bei jugendlichen Flüchtlingen von dem bei Erwachsenen. „Eine erkennungsdienstliche Erfassung gibt es nicht.“ Viele Jugendliche hätten zwar Unterlagen dabei, oft sei man jedoch auch auf deren Angaben angewiesen, wenn es um Name, Alter und Herkunft gehe.

Viele wüssten ihr Geburtsdatum aber nicht. „Das hat auch kulturelle Gründe“, erklärt Adler. In Ländern wie Afghanistan hat das Alter keine Bedeutung. Jugendschutz, Verbot von Kinderarbeit, Schulpflicht – all jene Dinge, bei denen das Alter eine Rolle spielt, gebe es in solchen krisengebeutelten Gebieten oft nicht. In den deutschen Jugendämtern schätzen Experten deshalb das Alter und prüfen die Plausibilität der Angaben.

„Wir haben letztes Jahr von etwa 100 Jugendlichen zwei zu den Erwachsenen geschickt, weil sie offensichtlich älter waren“, erzählt Adler.

Der Attentäter von Heidingsfeld stammte offensichtlich aus Pakistan. Muss das den Behörden nicht auffallen? Bei den Gesprächen sind Dolmetscher dabei, berichtet Adler. Die könnten aber auch nicht jede Sprachfärbung erkennen. „Dass unzählige Flüchtlinge einreisen konnten, weil sie sich als Syrer ausgegeben haben, das stimmt so nicht“, sagt er. Aber es könne schon passieren, dass man als Afghane durchgeht, auch wenn man im pakistanischen Grenzgebiet aufgewachsen ist.

Etwa 750 UmF leben derzeit in Unterfranken. Im Landkreis Kitzingen gibt es Wohnheime in Marktbreit, Wiesenbronn und Kitzingen. Die Bestürzung am Tag danach ist bei den Jugendlichen riesengroß. Zwischen Scham, Betroffenheit und Angst lägen die Gefühle, wie Alexander Lunau berichtet. Der Sozialpädagoge ist der Einrichtungsleiter in Kitzingen, wo derzeit 22 Jugendliche in zwei Gruppen leben.

„Zwei unserer Jugendlichen wollten partout nicht in die Schule gehen“, berichtet er. „Weil sie sich für die Tat des Attentäters schämten.“ In manchen Klassen sei es auch zu verbalen Anfeindungen gekommen. „Es ist doch ganz klar, dass die Menschen jetzt Angst haben“, sagt Gerald Möhrlein, Kreisvorsitzender der AWO. Eine Gefahr gehe von den UmF aber nicht aus.

„Viele fliehen ja gerade vor dem IS, der Gewalt und dem Terror“, sagt Johannes Hofmann, der Leiter der zwei UmF-Wohngruppen von der Rummelsberger Diakonie in Wiesenbronn. Er hat eng mit den Jugendlichen zu tun. Eine Erklärung, wie es zu der Tat kommen konnte, hat er auch nicht. „Wir wären blind, wenn wir behaupten würden, so etwas könne nicht vorkommen.“ Man müsse sich nur einmal den psychologischen Hintergrund dieser jungen Menschen vor Augen führen: Sie kommen aus Kriegsgebieten, sind traumatisiert. „Viele schlafen die ersten Wochen nur angezogen, bei Licht und offener Tür“, erzählt Hoffmann.

In so einer Ausnahmesituation werden Gefühle und Erinnerungen erst einmal tief im Inneren begraben. Der Diakon erinnert an die Kriegsgeneration in Deutschland, die, wenn sie es überhaupt schaffte, Jahre brauchte, um ihre Erfahrungen zu verarbeiten.

„Wir wären blind, wenn wir behaupten würden, so etwas könne nicht vorkommen.“
Johannes Hofmann UmF-Wohngruppenleiter

Schlimme Nachrichten aus der Heimat können dann eine regelrechte Lawine auslösen. Beispielsweise wenn ein naher Verwandter oder Bekannter verletzt oder getötet wird. Auch im Heidingsfelder Fall scheint dies eine Rolle gespielt zu haben. „Das Handeln und Denken ist dann absolut widersprüchlich und irrational“, erklärt Hofmann. „Die Flüchtlinge fühlen Wut und Hilflosigkeit.“ Entschuldigen könne dies so eine Tat natürlich nicht.

Wie die Jugendlichen in Wiesenbronn das Attentat ganz in ihrer Nähe wahrgenommen haben? „So wie die deutschen Jugendlichen auch“, sagt Hofmann. Es gäbe diejenigen, die schockiert und traurig sind. Und es gäbe diejenigen, die sich kaum für so etwas interessieren und lieber über die neusten Transfergerüchte im Fußball sprechen.

Dennoch: Das Thema muss thematisiert werden. Vor allem, weil es die Jugendlichen direkt betreffen kann. Reaktionen im Netz legen nahe, dass sich rechte Gruppierungen im Windschatten der tragischen Ereignisse weiter radikalisieren könnten. Viele UmF sind täglich im Landkreis unterwegs. „Es werden wohl angespannte Situationen entstehen, wenn Flüchtlinge im Zug auf Einheimische treffen“, befürchtet Adler. Auch Hofmann hat bereits mit seinen Jugendlichen gesprochen, sie auf die Problematik vorbereitet und darauf hingewiesen, dass sie jede Form von verbalen oder nonverbalen Angriffen melden sollen. Er hofft jedoch, dass sich die sehr positive Stimmung in Wiesenbronn gegenüber den jungen Flüchtlingen auch durch den Amoklauf von Würzburg nicht eintrübt.

Dass die Menschen erkennen, dass es sich um einen Einzeltäter gehandelt hat.

Kein leichtes Unterfangen. Das ist allen Beteiligten in der Flüchtlingsarbeit bewusst. Hofmann hat einen Tipp für die Menschen im Landkreis: „Alle sollten ehrlich sein mit ihren Gefühlen, ob Flüchtlinge oder Einheimische.“ Erst dann könne man aufeinander zugehen. Das sei eine Grundvoraussetzung, um das Zusammenleben positiv zu gestalten – und es sich nicht von Einzeltätern zerstören zu lassen. „Nach den großen Anschlägen in Paris und Nizza hieß es immer: Wir lassen uns unseren Alltag nicht kaputt machen“, erinnert Hofmann. „Ich hoffe, dass es bei uns jetzt auch so sein wird.“ Sei es bei der Zugfahrt, dem Besuch im Schwimmbad oder eben im Umgang mit den Flüchtlingen.
 


Kommentar von Robert Wagner

Lächeln gegen die Angst

Als ich am Montag vom Attentat in Heidingsfeld erfuhr, war mein erster Gedanke: Oh Gott, kenn ich jemanden der da unterwegs war? Der zweite Gedanke galt der Situation vor Ort, den Verletzten und den traumatisierten Opfern. Und schon der dritte Gedanke richtete sich in die Zukunft: Was bedeutet das jetzt für unser Leben hier?

Die Situation war schon vorher angespannt: Auf der einen Seite stehen die Menschen, die aus Krisengebieten zu uns flüchten. Die oft traumatisiert sind. Und die sich in einem völlig fremden Land, mit völlig fremder Kultur und Sprache erst einmal zurecht finden müssen. Viele haben damit Probleme.

Auf der anderen Seite stehen all jene, die Angst vor dem Fremden haben. Angst um ihren Wohlstand oder um ihre Gesundheit. Die die Neuen mit Misstrauen beäugen. Für all jene ist der Heidingsfelder Angriff Wasser auf die Mühlen. Und vielleicht sollte der Angriff auch genau das sein. Vielleicht nicht in den Augen des Täters – wohl aber in den Augen der radikalen Ideologen des IS.

Terror zielt immer auf das Gefühl. Das Gefühl der Sicherheit, das Gefühl des Vertrauens. Seine Wirkung erstreckt sich weit über die einzelne Tat hinaus. Was könnte mehr im Interesse der radikalen Islamisten sein, als ein Europa der Angst. Ein Europa, in dem hier lebende Muslime und neu zugezogene Ausländer ausgegrenzt und mit Misstrauen beäugt werden? In dem sich diese Muslime dann ausgegrenzt und fremd fühlen, sich zurückziehen und so empfänglich werden für islamistische und menschenverachtende Ideologien? In dem sich die Spirale des Hasses hochschaukelt – eben genauso wie in den Krisengebieten im Mittleren Osten.

Vor dieser Atmosphäre des Hasses zwischen den Menschen habe ich Angst, nicht vor einzelnen Terroristen. Ich habe Angst davor, irgendwann den Fremden nicht mehr anlächeln zu können, weil ich Angst vor ihm habe. Und Angst davor, dass er nicht mehr zurück lächelt, weil ihm von Deutschen nur Hass und Misstrauen entgegenschlägt. Und genau deswegen werde ich weiter lächeln, lächeln gegen die Angst.