Gemeinsam gegen Gaffer

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Als wäre er ein Tourist und der Unfallort eine Sehenswürdigkeit: Gaffer behindern nicht nur auf der Autobahn oft die Rettungsarbeiten und filmen verletzte oder gar getötete Mitmenschen ...
Berthold Diem
Als wären er ein Tourist und der Unfallort eine Sehenswürdigkeit: Gaffer behindern nicht nur auf der Autobahn oft die Rettungsarbeiten und filmen verletzte oder gar getötete Mitmenschen ...
Berthold Diem
Als wären sie Touristen und der Unfallort eine Sehenswürdigkeit: Gaffer behindern nicht nur auf der Autobahn oft die Rettungsarbeiten ...
Foto: BERTHOLD DIEM
Fotograf Berthold Diem hat fünf Feuerwehren Schutzwände gegen Gaffer gesponsert. Traudl Baumeister
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Als wären sie Touristen und der Unfallort eine Sehenswürdigkeit: Gaffer behindern nicht nur auf der Autobahn oft die Rettungsarbeiten und filmen verletzte oder gar getötete Mitmenschen ...
Berthold Diem

Frei von Neugierde ist wohl kein Mensch. Aber muss man an Unglücksorten vorbeischlendern wie ein Tourist an einer Sehenswürdigkeit? Muss man auf der Autobahn sein Tempo auf Schrittgeschwindigkeit drosseln und Schwerverletzte oder gar Tote filmen?

Es gibt tatsächlich Menschen, die das tun. Frank Ladnar, stellvertretender Leiter der Autobahnpolizei Biebelried, hat Gaffer der schlimmsten Sorte erlebt, die skrupel- und pietätlos „draufhalten“. Deshalb sind Sichtschutzwände seiner Meinung nach sinnvoll. Er begrüßt die Initiative von Berthold Diem, dem „Blaulichtfotografen“ dieser Zeitung, der mehreren Feuerwehren Sichtschutzwände gesponsert hat. Die Barrieren aus leichtem Gewebe können von zwei Personen wie eine Decke gehalten oder an schnell zu montierenden Stativen befestigt werden.

Frank Ladnar hat bei schweren Unfällen auf der Autobahn erlebt, dass man manche Menschen regelrecht anschreien muss, damit sie weiterfahren. „Die blockieren die Gegenfahrbahn der Autobahn, weil sie ja alles sehen wollen. Jeder Kollege kann davon ein Lied singen.“ Natürlich müsse sich die Polizei vor Ort als Erstes um die Unfallopfer und die Unfallaufnahme kümmern. Erst danach, wenn Zeit ist, können sich die Beamten an die Leitplane stellen, Kennzeichen und Fahrerbeschreibung notieren und Gaffer damit später juristisch belangen. „Neulich haben wir wegen der missbräuchlichen Handy-Nutzung nach einem Unfall 40 Anzeigen geschrieben.“

Dürfte die Polizei eine Kamera aufstellen und das Geschehen filmen, gäbe es sicherlich noch viel mehr Anzeigen – allerdings ist das datenschutzrechtlich nicht erlaubt. „Aber wir tun alles, was wir personell leisten können“, sagt Ladnar. Das gelte auch für den Sichtschutz: Die Autobahnpolizei versuche, die Einsatzfahrzeuge so an der Unfallstelle zu platzieren, dass die Opfer vor den Blicken der Gaffer geschützt sind.

Die Feuerwehr Geiselwind behilft sich diesbezüglich mit Planen aus dem Baumarkt. „Wir halten die Planen vor den Unfallort, so lange dort Leute gerettet oder geborgen werden“, berichtet der Geiselwinder Bürgermeister Ernst Nickel, der seit 34 Jahren aktiven FFW-Dienst auf der Autobahn versieht und schon etliche Fahrer – „speziell auch viele Lkw-Fahrer“ – beim Filmen von Unfallstellen beobachtet hat. Allerdings, sagt Nickel, gebe es werktags durchaus Probleme: „Uns fehlt dann das Personal, um die Dinger überhaupt aufzustellen. Menschenrettung geht vor. Wenn jemand im Auto eingeklemmt ist und schreit, können wir nicht erst Planen aufspannen.“ Schnell aufzustellende, selbsttragende Sichtschutzwände würde er sehr begrüßen.

Auch Sven Appold vom BRK Kitzingen findet mobilen Sichtschutz nötig. „Wir stellen mit Schrecken fest, dass gerade Lkw-Fahrer oft filmen“, sagt der Rettungsdienstleiter. Nicht selten gebe es deshalb Folgeunfälle auf der Gegenfahrbahn. „Wir begrüßen die Initiative von Herrn Diem und sind für jede Feuerwehr dankbar, die so ein Ding dabeihat.“

Über „so ein Ding“ verfügt seit kurzem die Feuerwehr Kitzingen. Laut Kommandant Markus Ungerer hat die Wand mehrere Vorteile: „Sie belehrt nicht, sie lenkt nicht durch einen langen Text ab, sie ist international verständlich.“ Die Aufschrift „No Photos!“ und das Piktogramm von Einsatzfahrzeugen seien innerhalb einer Sekunde zu erfassen: „Eine klare Ansage, die in jeder Sprache verständlich ist.“

Man könne mit der drei mal zwei Meter großen Plane allerdings keine komplette Einsatzstelle vor fremden Blicken schützen, aber das sei auch nicht die Aufgabe der Feuerwehr. „Wir Feuerwehren müssen uns auf unser Kerngeschäft konzentrieren: retten, löschen, bergen, schützen.“

Alles andere ist eher Sache der Polizei. Björn Schmitt, Polizeioberkommissar und Pressesprecher des Polizeipräsidiums Unterfranken, macht klar: „Aus polizeilicher Sicht müssen die Persönlichkeitsrechte von Unfallbeteiligten und -opfern immer im Vordergrund stehen.“ Dennoch: Im Ernstfall zählt auch für die Polizei zuallererst die Einsatzbewältigung. Schmitt appelliert deshalb an alle, die einen Unfall beobachten: „Jeder Verkehrsteilnehmer sollte sich im Unglücksfall emphatisch zeigen und sich selbst in die Lage der Betroffenen hineinversetzen.“

Bei manchen Einsätzen sei die Polizei schon gezielt gegen Gaffer vorgegangen, die zum Beispiel bei einem Verkehrsunfall im Vorbeifahren schwer verletzte oder gar getötete Personen gefilmt oder fotografiert haben. „Dieses verwerfliche und auch nicht mit Neugierde zu entschuldigende Verhalten wurde unterbunden.“

Wie kommt es eigentlich zu diesem „verwerflichen Verhalten“? Inwieweit hat die Sensationsgier zugenommen? Markus Ungerer, Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr Kitzingen, findet, die Situation habe sich in den letzten Jahren nicht wirklich drastisch verändert. „Gaffer gab es schon immer. Es liegt wohl in der Natur des Menschen, sehen zu wollen, was passiert ist.“ Manchmal stehen die Zuschauer weit weg und stören nicht, manchmal kommen sie aber auch zu nahe und behindern die Rettungsdienste. „Manchmal sind sie einsichtig, manchmal nicht. Die Sensationslust ist, glaube ich, nicht wirklich anders als früher.“

Was sich jedoch geändert hat: „Die Menschen wollen immer weniger durch Notfälle anderer in ihrem Leben eingeschränkt werden, Egoismus und Gleichgültigkeit haben zugenommen. Verständnis und Empathie verringern sich.“ Die wohl einschneidendste Veränderung liege im wahrsten Sinne des Wortes auf der Hand: „Früher ist nicht jeder mit einem Fotoapparat herumgelaufen. Heutzutage hat jeder eine Kamera dabei, in Form des Smartphones. Ein Foto ist schnell gemacht und dank Internetanbindung noch schneller an andere Personen gesendet.“ Oder in sozialen Medien gepostet. „Das Mitteilungsbedürfnis ist oft größer und schneller als der Gedanke über die Folgen des Postings.“

Heutzutage sei es leicht möglich, dass ein Bild schon „um die Welt geht“, noch bevor die Angehörigen eines Unfallopfers informiert werden konnten. Von Persönlichkeitsrechten und der verschärften Rechtslage hätten viele Menschen einfach keine Ahnung.

Um das zu ändern, fordert der Geiselwinder Bürgermeister und Feuerwehrmann Ernst Nickel, dass jeder, der Rettungsarbeiten behindert, rigoros zur Kasse gebeten werden soll: „Es geht alles nur über den Geldbeutel. Wenn Leute Mitmenschen filmen oder sich so saudumm hinstellen, dass kein Rettungsdienst durch die Rettungsgasse fahren kann, dann müssten eine Geldstrafe und ein Fahrverbot her!“

Polizeisprecher Björn Schmitt betont, dass man auch als ganz normaler Bürger helfen kann: Zivilcourage zeigen, Gaffern die Meinung sagen. Aber natürlich so, dass man selbst nicht auch noch zur Behinderung an der Unfallstelle wird. Schmitt empfiehlt, Bildmaterial in sozialen Medien nicht kommentarlos hinzunehmen, sondern sich an den Absender zu wenden und ihn zu fragen: Muss das sein, dass du so etwas postest? Würdest du wollen, dass andere von dir solche Bilder zeigen? „Wenn keiner mehr solche Szenen sehen will, sinkt der Reiz, sie zu filmen.“

INFO: Berthold Diem hat die Sichtschutzwände bei einem Würzburger Unternehmen fertigen lassen: „Eine einzelne Plane ist schon für weit unter 100 Euro zu haben.“ Bei Abnahme mehrerer Exemplare gibt es entsprechend gestaffelte Preise. Diem selbst hat bis dato die Feuerwehren Kitzingen, Hettstadt, Waldbrunn, Helmstadt und Waldbüttelbrunn mit mobilem Sichtschutz ausgerüstet. Wer es ihm gleichtun möchte, ist sehr willkommen: Potenzielle Sponsoren können das vorhandene Motiv gerne kostenlos verwenden. Bei Fragen können sich Interessenten per Mail an Berthold Diem wenden: teamdiem@t-online.de