Fast blind durch Volkach - ein Selbstversuch.
Vor mir erstreckt sich eine dunkelgraue Fläche – ohne erkennbare Grenzen, undefiniert und eintönig. Meine Schritte werden unsicher, ich konzentriere mich auf den Stock in meiner Hand. Am anderen Ende des weißen Stabes rollt eine Kugel über den Boden. Ihre Vibrationen verraten mir: Noch ist alles ziemlich eben. Noch. Plötzlich rutscht die Spitze über eine Kante. Wie befürchtet: Hier beginnt eine Treppe. Gesehen habe ich sie nicht.
Ich habe an diesem Vormittag allgemein nicht viel von Volkach gesehen. Das liegt nicht daran, dass ich unaufmerksam gewesen wäre. Im Gegenteil: So konzentriert habe ich mich schon lange nicht mehr fortbewegt. Schuld an meiner Vorsicht ist vielmehr Christine Thaler. Oder besser: Die spezielle Simulationsbrille, die mir die Beraterin vom Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund (BBSB) am Busbahnhof auf die Nase gesetzt hat.
„Man kann viel über die Probleme von Sehbehinderten sprechen“, sagt Thaler. „Aber es ist etwas anderes, es selbst zu erleben.“ Seit 16 Jahren verschlechtert sich ihre Sehkraft zunehmend. Grund dafür ist eine chronische Entzündung der Regenbogenhaut (Iris), die im Kindesalter unentdeckt blieb.
Meine Brille simuliert eine Restsehstärke von zehn Prozent. Damit kann ich fast so schlecht sehen wie Christine Thaler. Es reicht gerade, um sich grob zu orientieren – wenn die Bedingungen gut sind. Das heißt vor allem: Wenn sich die verschiedenen Gegenstände und Flächen um mich herum farblich deutlich voneinander abheben. Was hingegen gar nicht geht, ist das Abschätzen von Entfernungen: Als mir Christine Thaler meinen Taststock hinhält, greife ich gehörig daneben.
Auf dem Weg Richtung Rathaus kommen meine Führerin und ich an einer Baustelle vorbei. Presslufthämmer schreien, Generatoren poltern. Der Lärm scheint mir in diesem Moment ohrenbetäubend. Der Untergrund wird uneben, ich habe Angst zu stolpern, mein Stock schlägt gegen Metall. So gestresst, nervös und unsicher habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Thaler fragt, ob ich mich einhaken will. Ich will jedoch einfach nur die Brille abnehmen – beherrsche mich aber: So viele Menschen müssen ihr ganzes Leben mit dieser Einschränkung klar kommen, da werde ich es ja wohl eine Stunde schaffen.
Ein Stück weiter frage ich, ob es stimmt, dass man als Mensch mit Sehbehinderungen tatsächlich besser hört und fühlt. „Die Sinne werden nicht besser“, antwortet sie und scheint den Kopf zu schütteln. „Aber man konzentriert sich viel mehr darauf.“
„Viele Menschen ziehen sich zurück, wenn die Augen nachlassen.“
Christine Thaler Beauftrage des BBSB
Wir gehen in ein Geschäft. „Sehen Sie die Stufe“, fragt mich Thaler. Ich schüttele den Kopf, besinne mich eines Besseren: „Nein.“ Zwei Menschen kommen dazu. Dunkle Flecken. Sie arbeiten hier. „Wir haben uns schon gefragt, wie wir die Stufe besser kennzeichnen könnten“, sagt ein Mann. Christine Thaler erklärt, dass vor allem Kontraste wichtig sind. Und Helligkeit. „Bei Treppen sollten zumindest die erste und die letzte Stufe deutlich gekennzeichnet sein.“