“ Aufs Irdische übertragen, könnte man sagen, Gott gehört nicht zu den Helikoptereltern. Die Mütter und Väter, die immer ihre Hand über, neben, hinter ihr Kind halten, sind ja auch nicht gut für ihren Nachwuchs – ihre übermäßige Fürsorge bewirkt letztlich, dass ihr Kind nicht selbstständig lebensfähig wird und sich nicht frei entfalten kann.
Aber warum greift Gott nicht doch einmal ein, wenn er zum Beispiel sieht, dass ein Mensch das Leben eines anderen zerstört? Jesus hat doch auch Wunder getan.
Hartung: Das können wir Gott erst dann fragen, wenn wir vor ihm stehen. Ich kann es nur so erklären: Wenn Gott immer eingreifen würde, wenn es bei uns auf der Erde eng wird, dann wäre unser Leben nicht mehr selbstbestimmt. Dadurch, dass Gott alle Menschen, ohne Ausnahme, frei sein lässt, ist er freiwillig einen Schritt zurückgetreten und hat in Kauf genommen, dass der Mensch seine Freiheit missbraucht und dadurch Leid entsteht. Die Freiheit des Menschen ist ein Risiko, das Gott eingeht.
Und was ist mit Krankheiten, Flutkatastrophen, angeborenen Behinderungen, für die kein Mensch verantwortlich gemacht werden kann?
Hartung: Solche „natürlichen Übel“ sind eine harte Bewährungsprobe für den Glauben an Gott. Natürlich hat man die Frage im Hinterkopf, warum Gott nicht einfach andere Naturgesetze gemacht hat. Allerdings: Das Leben auf der Erde, so wie wir es kennen, ist allein durch die bekannten Naturgesetze so geworden, wie es ist. Hätten wir diese verlässlichen Naturgesetze nicht, hätten wir eine ganz andere Welt, auf der vielleicht gar kein Leben möglich wäre.
Stellt sich die Frage, ob das nicht manchmal besser wäre…
Hartung: Tatsächlich kann man zynisch werden, wenn man versucht, Gründe für Leid zu finden. Auf den ersten Blick erscheint es oft so sinnlos.
… manchmal auch auf den zweiten und dritten Blick!
Hartung: Wenn Menschen großes Leid erleben, wirken Erklärungsversuche oft deplatziert. Manchmal gibt es einfach auch keine Erklärungen. Und wenn, dann spenden sie nicht den Trost, den solche Menschen brauchen.
Wie kann man Leidende denn trösten – wenn man gleichzeitig gern auf Gott einschlagen und ihm sagen möchte, dass man das ganze Leid überhaupt nicht begreift?
Hartung: (grinst): Sie können versuchen, ihn zu schlagen, aber Sie werden nicht hoch kommen… Nein, im Ernst: Es ist völlig in Ordnung und einfach menschlich, hart mit Gott ins Gericht zu gehen. Ein allmächtiger Gott muss es aushalten, wenn ein Mensch in seinen menschlichen Grenzen überfordert ist und ihm seinen Schmerz, seine Wut entgegen schreit. Andererseits ist Gott kein Cola-Automat, in den man oben zwei Euro reinwirft und unten kommt raus, was man will. Trost in der Ohnmacht findet man vielleicht dadurch, dass Gott als Mensch – Jesus – auch unglaubliches Leid aushalten musste. Damit ist Gott einer, der weiß, wie sich das anfühlt.
Warum sollte man an einen Gott glauben, der so etwas zulässt? Der selbst seinen Mensch gewordenen Sohn am Kreuz elend sterben lässt?
Hartung: Für mich ist die Liebe, die es ohne Leid auch nicht geben könnte, der zugänglichste Wert, der dafür spricht, am Glauben an Gott festzuhalten. Wenn ich auf mein eigenes Leben blicke, kann ich sagen, dass das Leid, das ich erleben musste, auch sehr oft von zuwendender Liebe begleitet wurde. Ich durfte erleben, wie Menschen mit Hilfe und Mitgefühl an meiner Seite gestanden haben. So ist es leichter, den Glauben an Gott nicht zu verlieren, auch wenn man Leid erfährt.
Kann man im Leid einen Sinn finden?
Hartung: Nicht immer. Manches, was geschieht, ist – mit Verlaub gesagt – so scheiße, dass man daraus sicher nichts Gutes ziehen kann. Mancher Schmerz hat aber schon seinen Sinn: Er warnt mich, dass mit meinem Körper oder meiner Seele etwas nicht stimmt. Grundsätzlich bin ich sicher, dass man den Wert des Leids, wenn überhaupt, oft erst in der Rückschau aufs Leben erkennen kann.
Haben Sie nie an Gott gezweifelt?
Hartung: Oh doch. Zweifel sind etwas ganz Natürliches, Normales. Leid und Übel werden immer eine Bewährungsprobe für den Glauben bleiben. Das ist wie in einer zwischenmenschlichen Beziehung: Nicht jeder Tag ist wie der andere. Es kann auch Tage geben, an denen der Glaube sehr schwer fällt.
Viele wenden sich heute vom Glauben ab – und lesen statt dessen zum Beispiel Ratgeber. Über das Gegenteil von Leid – Glück – gibt es Tausende Bücher…
Hartung: Ja, und deren Inhalt klingt auch immer gut. Aber oft tritt nach der Lektüre nicht der erhoffte Effekt ein. Man ist nicht glücklicher, im Gegenteil. Den Knopf, den man drücken müsste, um glücklich zu sein, den findet man nicht.
Weil es ihn nicht gibt?
Hartung: Weil Glück nichts Absolutes ist. Es gibt schlichtweg keine Garantie dafür, dass man immer alles versteht, was im Leben passiert. Um Geschehnisse einzuordnen und einen Sinn oder Wert darin zu erkennen, hilft vielen Menschen der Glaube. Um das Leid zu verkraften, braucht man aber Menschen an der Seite, die einem beistehen. Vielleicht ist das das wahre Glück.
Vortrag: Am Mittwoch, 16. November, in der Ausweichkirche von Wiesentheid (Pfarrheim am Neßtfellplatz). Beginn ist um 19.30 Uhr, der Eintritt ist frei. Nach dem Referat ist Zeit für Fragen.
Vortragsabend
Zur Person: Andreas Hartung, 34, stammt aus Rechtenbach bei Lohr, war dort Ministrant, Küster und Vorsitzender des Pfarrgemeinderats. Seit Mitte 2014 ist er Kaplan der Pfarreiengemeinschaft Kirchschönbach–Stadelschwarzach–Wiesentheid. Nach dem Hauptschulabschluss im Jahr 1998 absolvierte er eine Ausbildung zum Schreiner und arbeitete bis 2008 in diesem Beruf. Von 2008 bis 2012 studierte er am Spätberufenenseminar in Lantershofen. Seine Primiz nach der Priesterweihe feierte er am Dreifaltigkeitssonntag 2014.
Vortrag: Am Mittwoch, 16. November, hält Andreas Hartung in der Ausweichkirche von Wiesentheid (Pfarrheim am Neßtfellplatz) den Vortrag „Warum gibt es Leid?“. Beginn ist um 19.30 Uhr, der Eintritt ist frei. Nach dem Referat wird Zeit für Fragen