Schrei nach Aufmerksamkeit
An manchen Tagen beginnt das Drama schon am Frühstückstisch: Will Jule Aufmerksamkeit, fängt sie an zu brüllen. "Sie sagt immer den gleichen Satz und jedes Mal lauter. Das ist ihre Tour." In ihrer Anfangsphase bei den Hofmanns habe sie das täglich durchgezogen. "Wir sind fast ausgerastet", gibt Sarah offen zu. "Du kommst nicht mehr an sie ran. Wenn sie einen Anfall hat, muss man sie einfach in ihrem Zimmer schreien lassen, bis sie sich abreagiert hat und hoffen, dass die Nachbarn nicht die Polizei rufen."
Lesen Sie auch: Interview mit Sozialpädagogin Anke Pertsch über Herausforderungen, mit denen Pflegeeltern konfrontiert werden
Jule ist intelligent, eine tadellose Schülerin - und spielt ihre Mitmenschen gegeneinander aus. Sarah und Christian müssen sich permanent austauschen, um sicherzugehen, ob der jeweils andere wirklich dieses und jenes erlaubt hat. Oder ob Jule lügt. Und da ist noch etwas anderes, was Sarah Sorgen bereitet: Jules vorherige Pflegemutter hat sie gewarnt, die Neunjährige nicht mit kleinen Kindern alleine zu lassen. Das könne gefährlich werden. "Auch heute habe ich kein gutes Gefühl, wenn sie mit meinem Enkel in ihrem Zimmer spielt und die Tür zu ist. Da werde ich unruhig."
Und dann kam der Abend, an dem Sarah fast aufgegeben hätte. "Ich habe mir nicht vorstellen können, das jahrelang mitzumachen. Es ist schon zu viel passiert, als dass wir es noch gerade biegen könnten." Doch Sarah und Christian betrachten die Situation noch einmal von außen, ganz nüchtern, ganz unpersönlich. Wenn sie das Mädchen jetzt aufgeben, wird sie von einem Heim ins nächste weitergereicht. In immer kleinere Gruppen mit engerem Personalschlüssel und sonderpädagogischer Betreuung. "Was nach uns passiert, das kann nichts Gescheites sein", bringt es Christian auf den Punkt.
Bevor es zu sehr schmerzt
Das Paar beginnt, Jule zu analysieren. "Sie tut alles, um aus der Familie rauszufliegen. Denn besser jetzt, als später, wenn sie uns richtig gern gewonnen hat." Sie lernen, an Jules Mimik abzulesen, wann der nächste Anfall droht - und sie dann im richtigen Moment abzulenken. Sie legen Kalender an, in denen sie akribisch das Auftreten der Schreiattacken und psychosomatischen Schmerzen notieren.
Und die Bemühungen zeigen Wirkung: Jules Anfälle werden deutlich kürzer, an manchen Tagen bleiben sie sogar komplett aus. Vor dem Schlafengehen besteht sie auf einen festen Drücker von Christian und eine Runde Vorlesen mit Sarah. "Es ist ein großer Fortschritt, dass sie körperliche Nähe zulässt. Am Anfang konnten wir sie nicht einmal an der Hand berühren, da ist sie zusammengezuckt", erinnert sich die Pflegemutter.
Noch mehr Grenzerfahrungen: Ultramarathonläufer aus Zeil erzählt: "Ab 30 geht es langsam abwärts"
Stück für Stück setzt sich ein Bild von Jules Vergangenheit zusammen. Zu Frauen habe sie tendenziell ein schlechteres Verhältnis. Und rechnet sie mal nicht damit, dass jemand hinter ihr stehen könnte, erschrickt sie so heftig, dass sie sich in einer Ecke versteckt, die Arme schützend vors Gesicht reißt und anfängt zu weinen. "Man sieht ganz klar, dass sie Gewalt erfahren hat." Bald soll Jule eine Traumatherapie beginnen. "Wir müssen uns darauf einstellen, dass es wieder ordentlich knallt, wenn dabei alte Erinnerungen hochkommen", befürchtet Sarah. "Aber da müssen wir durch."
Opfer und Chancen
Wieso sie sich das eigentlich antun, all die Opfer für ein fremdes Kind, Sarah fragt es sich manchmal selbst. Keine spontanen Treffen mehr mit Freunden, kaum noch Zeit mit dem Partner. "Es wird sehr einsam um uns herum." Doch die beiden geben nicht auf. "Jedes unserer Kinder hat einen super Weg gemacht. Kein einziges hätte diese Chance gehabt, wenn wir nicht gewesen wären." "Jule ist ein intelligentes Mädchen und aus ihr kann was richtig Gescheites werden", fügt Christian voll Überzeugung an.
Die Neunjährige ist bei den Hofmanns mittlerweile nicht mehr nur in Bereitschafts-, sondern in Dauerpflege. Was sich die beiden für die Zukunft ihrer Pflegetochter wünschen? "Das wir es schaffen", sagt Sarah und fegt einen Brösel vom Esstisch. "Ganz einfach."
*Aus Rücksicht auf die Beteiligten wurden alle Namen von der Redaktion geändert.
115 Pflegekinder lebten im Jahr 2018 im Landkreis Haßberge, verteilt auf 63 Pflegefamilien.
0-21 Jahre alt waren die Pflegekinder im Jahr 2018. 46 Prozent davon waren weiblich.
§33 des Sozialgesetzbuches beschreibt die Hilfe zur Erziehung von Kindern in Vollzeitpflege.
Verschiedene Formen von Familienpflege
Vollzeitpflege Wenn sich herausstellt, dass sich die leiblichen Eltern auf absehbare Zeit nicht mehr selbst um ihre Kinder kümmern können, werden diese langfristig bei Pflegeeltern untergebracht.
Wochenpflege Bei dieser Form leben die Kinder unter der Woche montags bis freitags bei einer Pflegefamilie. Die Wochenenden dürfen sie jedoch bei ihren leiblichen Eltern verbringen.
Kurzzeitpflege Wenn sich alleinerziehende Mütter oder Väter kurzzeitig nicht um ihre Kinder kümmern können, beispielsweise weil sie ins Krankenhaus müssen, können sie bei einer Kurzzeitpflegefamilie unterkommen. Der Zeitraum der Betreuung reicht von einigen Tagen bis zu drei Monaten.
Bereitschaftspflege Kommt es in einer Familie zu akuten Problemen und ein Kind muss dringend aus der Situation herausgeholt werden, greift die Form der Bereitschaftspflege. Hier bleiben die Kinder solange, bis eine geeignete Perspektive für sie gefunden wurde, beispielsweise auf längere Zeit bei einer Pflegefamilie oder zurück bei den leiblichen Eltern.
Pflegefamilie im Film
Der Film "Systemsprenger" feierte am 8. Februar 2019 im Rahmen der Berlinale Premiere und gilt als deutscher Favorit auf den Oscar als bester fremdsprachiger Film. Regisseurin Nora Fingscheidt vereint darin mehrere Schicksale traumatisierter, schwer erziehbarer Kinder: Die neunjährige Benni ist kaum zu bändigen, schreit, schlägt um sich, randaliert. Ihre leibliche Mutter ist mit ihr überfordert, Benni wird zwischen Kinderheimen, Pflegefamilien und psychiatrischen Einrichtungen hin und her geschoben. Bis sich Bennis neuer Schulbegleiter Micha in den Kopf setzt, ihr zu helfen.