Vor 30 Jahren flog der Block vier des Kernreaktors von Tschernobyl in die Luft. Der Landkreis Haßberge hatte Glück, da der Wind mitspielte.
Informationen laufen heute schnell und vor allem auf elektronischem Weg. Das war vor 30 Jahren anders. Papier wurde benötigt, um Informationen weiterzugeben, sieht man einmal vom Fernsehen und dem Radio ab. Das Landratsamt Haßberge in Haßfurt hatte vor 30 Jahren ein besonderes Papier, um seine Mitteilungen an die Medien herauszugeben. Es war grün. Schwarz auf Grün bekamen die Zeitungsredaktionen damals die offiziellen Auskünfte aus der Behörde.
Block vier explodierte
Auf Informationen aus dem Amt warteten vor 30 Jahren die Zeitungen und ihre Leser nach dem 26. April 1986 sehnlich. An jenem Tag war der Block vier des Atomkraftwerks in Tschernobyl in der Ukraine explodiert. Die Umgebung wurde verstrahlt, und die Belastungen reichten bis nach Mitteleuropa und damit auch in den Landkreis Haßberge.
Wie stark war diese Strahlenbelastung? Waren die Menschen gefährdet? Was konnten sie tun, um sich zu schützen? Diese Fragen wollten die Menschen beantwortet haben. Nur, die Antworten kamen nicht so schnell. Deutschland war auf diesen Fall nicht vorbereitet. Man beruhigte sich mit der Aussage: Deutsche Atomkraftwerke sind sicher. Jetzt war aber ein Reaktor in der Ukraine (damals Teil der Sowjetunion) zerstört.
Die Zeitungsredaktionen im Kreis Haßberge warteten auf die grünen Zettel aus dem Landratsamt. Es dauerte, bis die grünen Blätter verbreitet wurden und die Leser endlich erste Antworten auf ihre drängenden Fragen erhielten. Allerdings: Es war gar nicht so einfach, konkrete Antworten zu geben. Wie gesagt: Das Land und seine Behörden waren auf einen solchen Super-GAU (größter anzunehmender Unfall) nicht vorbereitet, und die wenig transparente Informationspolitik der Sowjetunion tat ein Übriges, um mehr Verwirrung zu stiften, als Aufklärung zu betreiben.
Nicht vorbereitet
Es fehlte an Messgeräten und Begrifflichkeiten. Was sind Millisievert und Becquerel? Was bedeutet Halbwertszeit? Mit der Zeit gelang es, eine Übersicht zu bekommen. Was alles mit Hilfe der grünen Zettel an Hinweisen für die Bewohner des Landkreises Haßberge veröffentlicht wurde, lässt sich heute nicht mehr im Detail darstellen. Tenor war: Die Menschen sollten die Ruhe bewahren, es ist wohl nicht so schlimm, wie es zunächst ausgesehen hat. Das hat sich bewahrheitet. Unterfranken und damit der Kreis Haßberge "hatten großes Glück", sagt Rudolf Meyer.
Der Wülflinger ist seit 21 Jahren Vorsitzender der Kreisgruppe Haßfurt im bayerischen Landesjagdverband und quasi während seiner ganzen Amtszeit mit den Auswirkungen der Reaktorkatastrophe konfrontiert.
Unterfranken hatte deshalb Glück, weil der Wind in den Tagen nach dem Unfall in Tschernobyl die mit Strahlen belasteten Teilchen weniger nach Unterfranken, sondern in andere Gebiete trug. Der sogenannte Fallout traf aber Oberbayern und Schwaben sowie die Oberpfalz und Teile Oberfrankens. Unterfranken lag nicht in der Hauptwindrichtung.
Wildschweine besonders betroffen
Die Kreisgruppe Haßfurt der Jäger ließ die erlegten Wildtiere auf ihre Strahlenbelastung hin untersuchen. Das machte Sinn, denn vor allem die Wildschweine waren vom Reaktorunfall betroffen. Denn das Schwarzwild schnüffelt auf der Suche nach Pilzen im Boden herum, und dort waren die belasteten Teilchen aus Tschernobyl per Wind und Regen gelandet. Zunächst schickte die Kreisgruppe Haßfurt, der rund 300 Jäger angehören, die Proben an ein Labor und Mitte der 1990er Jahre kaufte sie dann für 6600 Mark selbst ein Becquerel-Messgerät.
Das steht im Keller des Hauses von Rudolf Mayer und ist heute noch im Einsatz. Bis zu 40 Proben pro Jahr werden aktuell mit Hilfe des Gerätes auf Strahlenbelastung hin untersucht. Jäger aus dem Kreis Haßberge sowie aus dem Raum Schweinfurt und teilweise aus dem Kreis Rhön-Grabfeld nutzen das Gerät, das die Belastung mit Caesium misst. Caesium ist ein Produkt der Kernspaltung, das beim Reaktorunfall in Tschernobyl freigesetzt wurde.
Unterfranken im Glück
Unterfranken hatte Glück nach dem Reaktorunfall, und das lässt sich auch aus den Ergebnissen der Messungen herauslesen. Sie lagen laut Rudolf Meyer nie über 80 Becquerel. Becquerel ist eine Maßeinheit für die Menge der Strahlenbelastung. Zum Vergleich: Der amtliche Grenzwert für Lebensmittel wird mit 600 Becquerel angegeben. Derzeit haben die mit dem Messgerät untersuchten Tiere Werte von 20 bis 25 Becquerel. Das sind Zahlen, die an der unteren Grenze der Nachweisbarkeit für das Gerät liegen und die laut Meyer der natürlichen Strahlenbelastung in der Umwelt entsprechen.
"Großer Einschnitt"
In belasteten Gegenden Oberbayerns werden heute noch Wildtiere mit 5000 bis 6000 Becquerel geschossen. Alles, was über 600 Becquerel liegt, muss vernichtet (verbrannt) werden.
Obwohl das im Landkreis Haßberge laut Rudolf Mayer nie der Fall war, bedeutete die Katastrophe von Tschernobyl für die hiesigen Jäger "einen großen Einschnitt. Wir konnten das Wild nicht mehr vermarkten", schildert er die Folgen nach 1986.
Die Jäger haben die Wildtiere auf ihre Strahlenbelastung etwa bis in das Jahr 2000 gemäß einer staatlichen Vorgabe untersuchen lassen müssen, zunächst in einem beauftragten Labor, seit Mitte der 1990er Jahre mit dem eigenen Messgerät. Jetzt sind die Messungen auf freiwilliger Basis. Die Jäger tun das, um den Verbrauchern zu signalisieren: Wild aus dem Kreis Haßberge ist einwandfrei. Das Wild habe eine "hervorragende Qualität", versichert Rudolf Meyer. Die Jäger wollten Sicherheit für die Verbraucher, die immer wieder verunsichert werden, wenn Medienmeldungen über radioaktiv belastete Tiere auftauchen - auch jetzt noch, 30 Jahre nach dem Unfall.
Messungen dauern an
Die Jäger sind nicht die einzigen, die die Strahlenbelastung im Landkreis untersuchen. Das Landesamt für Umwelt Bayern misst ebenfalls. "Die Ergebnisse werden fortlaufend aktualisiert", erklärt Monika Göhr, die Sprecherin des Landratsamtes in Haßfurt. Per Link (
www.lfu.bayern.de/strahlung/umrei/strvgprobe) können sie abgerufen werden.
Und: Die Lebensmittelüberwachung am Landratsamt misst ebenfalls. Laut Göhr wird jährlich mindestens eine Probe Wildfleisch genommen, und ein Mitarbeiter der Lebensmittelüberwachung zieht eine Probe Gras von einem Landwirt in der Gemeinde Pfarrweisach. Die Ergebnisse liegen laut Monika Göhr "zwischen ein und zwei Becquerel. Die Proben haben also keine Auffälligkeiten ergeben." Diese Nachricht kam schnell auf Anfrage aus dem Landratsamt - und nicht auf einem grünen Zettel (die gibt es schon lange nicht mehr).