Der Dirigent Oliver Kunkel verband beim klassischen Sommer-Open-Air in Zeil traditionelle und experimentelle Musik mit aktuellen Geschehnissen in der Welt. Wegen der Wetterlage ging es vom Finanzamtsgarten in die Tuchangerhalle.
Monika Schraut
Der Titel "Ein Konzert mit traditioneller und experimenteller Musik aus Ost und West" beschreibt bei weitem nicht das, was den Zuschauern am Sonntagabend in Zeil geboten wurde. Oliver Kunkel präsentierte - wegen schlechter Wetterprognosen leider nur in der Tuchangerhalle statt im Finanzamtsgarten - ein Gesamtkunstwerk aus Musikvielfalt, Pantomime, Schauspiel, Philosophie und Lichtprojektion.
Das Motto
"Mozart und mehr" stand auf dem Plakat und bildete das Baugerüst des gesamten Konzerts. Jedes Stück aus Mozarts Oper "Entführung aus dem Serail" wurde eingeleitet, unterbrochen oder ergänzt mit "mehr". Mit virtuosen Stücken der türkischen Langhalsgitarre, mit Percussion auf persischen Schlaginstrumenten oder von zahlreichen reflektierenden Kompositionen aus Kunkels Abiturkurs des Rathenau-Gymnasiums in Schweinfurt. Das Maintalsinfonieorchester, in dem ambitionierte Laien und professionelle Musiker gemeinsam musizieren, bot mit geschmeidiger Bravour den Wechsel und die Kombination zwischen traditionellen Mozartklängen, avandgardistischer Minimal-Music und türkisch-orientalischen Elementen.
Das Konzert begann fast im Sinne der "Turquerie", einer Modeerscheinung des 18. Jahrhunderts, die mit orientalischem Stil in Kleidung, Baukunst und Musik zu faszinieren wusste. Hadi Alizadeh lockte die Zuschauer mit einer Gruppe von neun Dafs, wie die kurdischen Rahmentrommeln genannt werden, in ein fremdes Land hinein. Seine Rhythmen - vor allem auf der Tombak im Stück: "Was ist Ost? Was ist West?" - bewegten alle. Sie ließen die Zuhörer vor Staunen verharren ob der Vielfalt eines einzelnen gespannten Trommelfells.
Sein Dafspiel ging nahtlos über in die bekannte Ouvertüre der Oper "Entführung aus dem Serail". Das Hin- und Herwandern zwischen dem traditionellen Mozart, der Baglama (türkische Langhalsgitarre), die meisterhaft von Yusuf Colak gespielt wurde, und dem Percussionsensemble hielt die Zuhörer in der Spannung mit den Fragen: "Wie wird sich die Reise entwickeln? Sind wir in Ost? Oder West? Sind wir heute oder gestern? Ist es fremd oder vertraut?"
Der grimmige Osmin
Leicht orientierten sich die Besucher, denen die Geschichte der Oper vertraut war. Sie erzählt von Konztanze, die vom Herrscher Bassa Selim in einen osmanischen Palast verschleppt wurde. Dieser wurde vom grimmigen Osmin bewacht.
Die lyrische Sopranistin Silke Evers brauchte weder Kulisse, noch Requisit. Jeder nahm ihrer intensiven und glaubwürdigen Stimme die sehnsüchtige, innerlich zerrissene und trotzig widerständige Konstanze ab. Fabian Christ, der kurzfristig für den angekündigten Roberto Ortiz einsprang, war mit seiner wunderbaren Tenorstimme in der Rolle des Belmonte ein großer Gewinn für das Ensemble.
Schülerinnen und Schüler aus den Chorklassen des Rathenau-Gymnasiums überzeugten in den Chorpartien mit einem homogenen Klang sowie mit akzentuierten Zwischenrufen zum Geschehen. Ebenfalls förderten sie kurzweilig, mit kleinen Accessoires, mit Handschuhen und Pappnasen, ausdrucksstark die Spielweisen eines ge- oder misslingenden menschlichen Miteinanders zu Tage. Mal ließen sie ihre Hände einander liebkosen, mal ballten sich die Fäuste, mal lachten sie, mal zogen sie sich schmollend in sich zurück.
Selbst wer die Operngeschichte Mozarts nicht kannte, konnte zum Beispiel an einer einfachen Leiter, die durch die Reihen gereicht wurde, und dem pantomimischen Schleichen der Kinder erkennen, dass es sich hier um den heimlichen Ausbruchsversuch handelt. Als dann alle 160 Kinder in der selben Sekunde vor Schreck erstarrten, war jedem klar: Die Flucht ist misslungen, aber die Chorklassen samt ihres Leiters erreichten choreographisch und gesanglich perfekt ihr Ziel.
Der Wächter Osmin, mit profundem Bass von Tomasz Raff gesungen, war gekleidet als Frontex-Grenzschützer. Er symbolisierte jenen zeit- und länderübergreifenden Menschentyp, der starr seine Aufgabe zum eisernen Prinzip erhebt. Alles Abweichende will er - ganz nach dem Mozart'schen Text - "geköpft, gespießt und gehangen auf heißen Stangen" sehen. Er will triumphieren, voll Häme lachen und "die Hälse schnüren zu". Doch Bassa Selim der zu Beginn sich noch ganz als Pascha gebärdete, verwandelt sich am Ende in einen Mann voller Weisheit. Er lässt die Flüchtenden ziehen, gebietet Osmin Einhalt und dreht die Spirale der Gewalt nicht weiter.
Die Komposition des Abiturienten Simon Böhnleins zeigt den vielleicht einzigen Weg aus dem ewig menschlichen Konflikt zwischen richtig und falsch. Er komponierte ein musikalisches Gespräch, das von Respekt vor dem anderen geprägt war. Im flirrenden Klangteppich werden Rhyhtmen gefunden und ausgetauscht, neue Ideen willkommen geheißen, bewegt und weitergetragen. Als Osmin beginnt, mit Hohn und Häme dazwischenzugehen, schallt plötzlich ein Schlussappell aus den Lautsprechern: "Nein!"
Weder Rache noch Häme ist die Sprache des Ostens und des Westens. "Ihr alle habt die Aufgabe, die Würde jedes einzelnen Menschen zu achten und die Vielfalt der west-östlichen Kette des Humanen weiterzureichen", lautet die Botschaft.
Ein Gesamtkunstwerk
Oliver Kunkel ist es mit seinem Gesamtkunstwerk gelungen, mit hochkarätiger Musik eine ethische Botschaft zu platzieren, die mit klarer Stellungnahme gegen alle Osmins, Höckes, Erdogans und Trumps dieser Welt für ein wertschätzendes Miteinander auftritt. Es war: Musikgenuss und mehr. Viel mehr! Langanhaltender, tosender Applaus zeigte, dass die Botschaft verstanden wurde und dem Publikum aus dem Herzen sprach.