"Maggi" Magersucht entmachten

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Stefanie zeichnet gern und viel. Die beiden Körperansichten hängen bei ihr im Wohnzimmer an der Wand.
Stefanie zeichnet gern und viel. Die beiden Körperansichten hängen bei ihr im Wohnzimmer an der Wand.
Christiane Lehmann

  Depression  Eine 26-Jährige spricht über die Macht der inneren Stimme, die das Essen verbietet, und vom Glück, vermeintlich Kontrolle über seinen Körper zu haben. Eine Leidensgeschichte.

Für ein Snickers hätte sie fast alles gegeben. Stefanie* liebt Snickers. Aber die Maggi in ihrem Kopf erlaubt es nicht. Maggi erlaubt ihr fast gar nichts. Essen darf sie nur, wenn sie sich vorher ordentlich bewegt, Gewichte hebt, ins Fitnessstudio geht oder durch den Wald joggt. Und weil Maggi so viel Macht über Stefanie hat, rennt und hungert sich die junge Frau die Kilos vom Leib. 1,83 Meter groß und irgendwann nur noch 50 Kilogramm leicht.

Dass Stefanie eine Essstörung hat, bemerkt sie mit 16 Jahren. "Es fing an, als mich mein damaliger Freund verlassen hat. Ich habe einfach aufgehört zu essen." Sie wurde dünner und dünner - aber wirklich gemerkt hat's keiner, sagt sie. Klar, Freunde hätte immer mal gesagt, sie mache zu viel Sport und esse zu wenig. Aber zwischendurch ging es ihr auch wieder besser. Bedrohlich sei das damals alles nicht gewesen.

Keine Lust auf Kontakte

Mit 19 Jahren zieht die junge Frau von zu Hause aus. 2019 lernt sie einen neuen Mann kennen und sie scheint alles gut im Griff zu haben. Doch dann kommt Corona. "Ich war viel daheim, viel allein und meiner Mama ging es schlecht. Sie kam mit Depression ins Krankenhaus", erzählt Stefanie. Das hat ihr zu schaffen gemacht. "Ich habe viel geweint, wollte nichts mehr unternehmen, hatte keine Lust auf Kontakte." Auch keine Lust mehr, etwas zu essen. Zehn Kilo hat sie im vergangenen Winter abgenommen. Im Januar wollte sie die Reißleine ziehen. Zusammen mit ihrem Freund wollte sie ihre Tyrannin Maggi in den Griff bekommen. Doch Maggi war stärker. "Wenn mein Freund nicht hergeschaut hat, hab ich das Essen weggeschmissen." Bei einer ambulanten Therapie wird schließlich festgestellt, dass das Gewicht von eben jenen 50 Kilogramm lebensgefährlich niedrig ist. Stefanie kann mittlerweile auch keine Treppen mehr steigen.

Wie ein Hamster im Rennrad

Die junge Frau lässt sich ins Bezirksklinikum Kutzenberg einweisen. Einen Monat bleibt sie dort. Doch wirklich helfen kann ihr keiner. "Mit Biegen und Brechen hab ich zwei Kilogramm zugenommen", sagt sie. Wie ein Hamster im Rennrad läuft sie täglich zehn bis 20 Kilometer. Körperlich geht es ihr immer schlechter.

Wieder daheim, schiebt sie Panikattacken, kauft sich Abführmittel und hat das Gefühl durchzudrehen. Einen Tag hält sie aus, dann geht sie zurück in die Klinik. Kommt in den geschützten Bereich. "Alles haben sie mir weggenommen. Meine Kopfhörer, meine Schminke, das Handy. Ich hab' nur noch geheult und war voller Angst", erinnert sie sich. Auch das war keine Lösung. Ihre Eltern dürfen sie schließlich abholen und ein paar Tage in Obhut nehmen.

Als es ihr etwas besser geht, zieht die 26-Jährige auch wieder nach Hause zu ihrem Freund. Nach weiteren zwei Wochen ist endlich ein Platz in der Psychosomatischen Klinik Bad Neustadt frei. Drei Monate verbringt Stefanie in der Spezialklinik, bekommt Sondennahrung, macht eine Therapie gegen die Essstörung und wird wegen Depressionen behandelt. "Ich hab mich gut verstanden und aufgehoben gefühlt, wäre auch gerne länger geblieben", sagt Stefanie. Mit stolzen 63 Kilogramm verlässt sie die Klinik.

Depression genetisch bedingt

Stefanie hat viel erfahren in dieser Zeit: Sie hat Maggi als die Feindin in ihrem Körper erkannt und benannt. "Dadurch, dass ich der Stimme in mir einen Namen gegeben habe, konnte ich die Magersucht besser greifen und in Schach halten", erzählt sie. Früher sei die Essstörung ihr bester Freund gewesen. "Denn ich war glücklich, wenn ich es geschafft habe, nichts zu essen, ich war dankbar, wenn ich die Kontrolle über mich hatte. Ich konnte genau bestimmen, wie viel ich wiegen möchte. Und wenn 56 Kilogramm zu viel erschienen, habe ich eben noch weiter gehungert", resümiert sie.

Die Magersucht ist nur ein Baustein im Rahmen einer Depression. Stefanie weiß jetzt, dass ihre Depressionen genetisch bedingt sind. Schon ihr Urgroßvater und ihre Oma litten darunter und eben auch ihre Mutter. "Sie versteht mich wenigstens, und wir haben ein sehr gutes Verhältnis", sagt Stefanie, sehr froh darüber. "Wer Depressionen nicht selbst kennt, wer nicht weiß, wie es ist, einfach nicht mehr aufstehen zu können, kann das alles auch nicht verstehen. Ich bin froh, dass meine Mama das kann."

Immer noch zu dick

Nachdem Stefanie aus Bad Neustadt zurückkommt, bittet sie ihren Freund, erst einmal auszuziehen. "Ich brauchte meine eigene kleine Höhle. Getrennt haben wir uns deswegen nicht." Für zwei Monate besucht sie noch die Tagesklinik in Coburg. Zwei Kätzchen hat sie sich angeschafft - zum Kuscheln und Kümmern müssen. Auch ein Rat der Therapeutin.

Stefanie hat das Gefühl, im Moment alles gut sortiert zu haben. Sie geht regelmäßig zur Therapie, hat eine Diätassistentin, isst drei Mahlzeiten am Tag und unternimmt kleine Spaziergänge in der Natur. Ihre Arbeit im Vertrieb einer großen Firma in Coburg hat sie gekündigt und beginnt im Dezember als Personaldisponentin bei einem Unternehmen in Kronach.

"Wenn Maggi sich meldet, gebe ich ihr Kontra und sage Nein." Stefanie ist stark geworden. Und hofft, dass sie es bleibt. Es sei ein schmaler Grat. Mit ihrem Freund hat sie einen Vertrag abgeschlossen. Wenn ihr Gewicht unter 58 Kilogramm rutscht, geht sie wieder in eine Klinik. "War mein Körper vor den Klinikaufenthalten zu 90 Prozent krank, würde ich sagen, dass er jetzt zu 80 Prozent gesund ist", meint sie stolz. Trotzdem trägt sie am liebsten noch lange, weite Pullis. Wenn sie in den Spiegel schaut, findet sie sich zu dick - vor allem ihre Oberschenkel. Da kann ihr keiner das Gegenteil einreden. Sie sieht, was sie sieht.

Viel positives Feedback

Stefanie geht mit ihrer Krankheit offen um. Auf ihrem privaten Instagram-Account hat sie ihre Leidensgeschichte veröffentlicht. Und dazu Fotos gestellt, die die Entwicklung ihres Körpers drastisch zeigen. Viel Zuspruch und positives Feedback hat sie für ihren Mut bekommen. Einigen Freundinnen hat sie aus der Seele gesprochen, andere haben sich Tipps geholt.

Warum macht Stefanie ihre Geschichte öffentlich? "Weil keiner so lange warten soll wie ich, um sich Hilfe zu holen." Wer glaubt, es alleine zu schaffen, liege falsch, macht sie deutlich. Für die Familie und Freunde ist das alles extrem schlimm. Nicht erst bei einem BMI unter 15 wird es gefährlich, mahnt sie.

Snickers mag Stefanie übrigens nicht mehr. Sie isst jetzt am liebsten Gebäckstückchen. Die hatte Maggi ihr immer verboten zu essen.

*Name von der Redaktion geändert