Das Grauen war oft ganz nah

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Frauen des KZ-Außenlagers Neustadt auf ihrem Marsch durch den Frankenwald. Der Leiter des Marsches mit rund 400 Zwangsarbeiterinnen im Neustadter Siemens-Werk machte dieses Foto, dessen Standort ungewiss ist. Beim Vortrag in Wallenfels meinte eine der Zuhörerinnen, dass es sich um den Bereich Knellendorf mit Glosberg im Hintergrund handeln könnte.
Frauen des KZ-Außenlagers Neustadt auf ihrem Marsch durch den Frankenwald. Der Leiter des Marsches mit rund 400 Zwangsarbeiterinnen im Neustadter Siemens-Werk machte dieses Foto, dessen Standort ungewiss ist. Beim Vortrag in Wallenfels meinte eine der Zuhörerinnen, dass es sich um den Bereich Knellendorf mit Glosberg im Hintergrund handeln könnte.
USC Shoah Foundation, Visual History Archive
Wer weiß noch etwas über die Todesmärsche kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs in der Region oder über die heimischen Opfer der Euthanasie? Dies würden (von links) die Neustadter Stadtheimatpflegerin Isolde Kalter, Horst Mohr und der Wallenfelser Ortsheimatpfleger Franz Behrschmidt gerne wissen.
Wer weiß noch etwas über die Todesmärsche kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs in der Region oder über die heimischen Opfer der Euthanasie? Dies würden (von links) die Neustadter Stadtheimatpflegerin Isolde Kalter, Horst Mohr und der Wallenfelser Ortsheimatpfleger Franz Behrschmidt gerne wissen.
Rainer Glissnik

Geschichte  Heimatpfleger und VHS erinnerten in Wallenfels an die Todesmärsche 1945 im Raum Kronach.

Wallenfels  —  Die Gräuel und Schandtaten des Dritten Reiches ereigneten sich nicht nur weit weg von der heimischen Region, wie es oft erscheinen mag. Das Grauen war oft ganz nah. Allein im April 1945 bewegten sich mindestens drei Todesmärsche durch das Gebiet des heutigen Landkreises Kronach. Ortsheimatpfleger Franz Behrschmidt, der seit 1966 in Berlin lebende ehemalige Nordhalbener Horst Mohr und die Neustadter Stadtheimatpflegerin Isolde Kalter erläuterten in einer Veranstaltung der Volkshochschule den Stand der Forschungen und riefen dazu auf, ihnen eventuelle weitere Berichte und Erzählungen zukommen zu lassen.

„In den letzten Kriegswochen eskalierten die NS-Kriegsverbrechen “, erklärte der für die Außenstellen der Volkshochschule zuständige pädagogische Mitarbeiter Johannes Hausmann. „Wir alle müssen Verantwortung übernehmen für Mitmenschlichkeit, Frieden und Freiheit. Es ist unsere Aufgabe, daran zu erinnern, welche Unmenschlichkeit in der Geschichte passiert ist, und die Augen zu öffnen, wenn Menschen heute unter Unmenschlichkeit leiden müssen.“

Im Jahr 1945 rückten die alliierten Truppen von allen Seiten näher. Warum die Nazis die Konzentrationslager räumten, ist umstritten. Sollten Zeugen der Gräueltaten vernichtet werden? Jedenfalls wurden die Häftlinge auch in den Außenlagern auf Märsche geschickt, und fast überall verloren dabei viele Menschen ihr Leben. Einzige Ausnahme ist offenbar der Neustadter Marsch durch die Region, auf dem wohl niemand umkam. Lange wollte niemand etwas von solchen Märschen in der Region gewusst haben.

Der Wallenfelser Ortsheimatpfleger Behrschmidt interessierte sich schon immer für die Vergangenheit seiner Heimatstadt. In den letzten Jahren wollte er auch mehr über die Geschichte des Zweiten Weltkriegs in der Region wissen. Er erstellte eine Dokumentation der Gefallenen und Vermissten aus Wallenfels und führte Gespräche. Dabei erzählte ihm seine Nachbarin Marga Spranger, als Augenzeugin einen Todesmarsch durch die Flößerstadt erlebt zu haben. Innerhalb weniger Wochen hatte er drei weitere Zeitzeugen. Als dies in den heimischen Zeitungen veröffentlicht wurde, meldeten sich weitere Zeitzeugen.

Marga Spranger erlebte als Siebeneinhalbjährige den Zug der unglücklichen Menschen direkt vor ihrem Elternhaus. „Ein Zug von Sträflingen auf der Schützenstraße“, berichtete sie. Sie stand mit ihrer Schwester draußen. Ein Sträfling setzte sich erschöpft auf ihre Treppe. Die Schwester rannte ins Haus und holte ein Glas Wasser. Doch der Aufseher trieb den Mann weiter. In ihrer Erinnerung sieht sie die Sträflinge in ihrer Kleidung, manche hatten einen Turban auf. Nie konnte sie das vergessen. „Es war furchtbar.“

Franz Behrschmidt berichtete über weitere Zeitzeugen. So schrieb ihm Manfred Hentschel (geboren 1938) – dessen Bruder Peter (geboren 1939) war jetzt in Wallenfels dabei. Die Brüder waren damals als Flüchtlinge in Wallenfels . Sie erlebten, wie Menschen schreiend und weinend von Soldaten durch den Ort getrieben wurden. Eine Frau wollte einem Gefangenen einen Becher mit Wasser reichen, der der Frau von Bewachern aus der Hand geschlagen wurde.

Franz Behrschmidt verlas weitere dramatische Schilderungen. „Es ist für die Ortsgeschichte wichtig, dass manche Ereignisse – auch wenn sie unangenehm sind – festgehalten werden“, betonte Franz Behrschmidt.

Horst Mohr – aufgewachsen in Nordhalben, seit 1966 in Berlin – erforschte die gleiche Geschichte aus Sonneberger Richtung. Nach Kriegsende gab es den Auftrag für die Gemeinden, Gemeindearchive zu pflegen. Viele sahen dies als Grund, Akten zu vernichten. Mohr fand den Namen eines in Nordhalben erschossenen jungen Mannes heraus.

Ein weißer Fleck?

Aus 30 Ortschaften der Region bekam er Informationen über diese Todesmärsche. Zwei Jahre nach Kriegsende gingen an alle Gemeinden Anfragen. Nur die Stadt Kronach hatte 1947 keinerlei Hinweise auf Todesmärsche. Kronach als weißer Fleck bei den Todesmärschen? Aber Willi Schreiber berichtete von einem solchen Marsch über den Kronacher Marienplatz, und eine Neustadter Betroffene schrieb in ihrem Tagebuch von der wunderschönen Stadt Kronach .

Die Neustadter Stadtheimatpflegerin Isolde Kalter berichtete von der Außenstelle des Konzentrationslagers Buchenwald in Neustadt. 400 jüdische Frauen aus den KZ Ravensbrück und Bergen-Belsen waren als Zwangsarbeiterinnen zu Siemens nach Neustadt gebracht worden. Aufseherinnen waren Frauen aus Neustadt und Umgebung, dazu einige ältere Männer aus der Wehrmacht . „400 ungarische Judenfrauen“ steht im Bericht des Marktes Mitwitz zur Übernachtung der Frauen. Viele Informationen gibt es aus einem Tagebuch einer Gefangenen, die in Neustadt arbeiten musste. Sie machte dieses aus Siemens-Abfallpapier und trug sehr viel ein. Wie es nach Mitwitz weiterging, ist unklar. Ab Kronach ist der Weg wieder sichtbar.

Ein weiterer Todesmarsch fand aus Richtung Sonneberg statt. Aufgrund des Vorberichtes zur Veranstaltung meldete sich ein Mann aus Ebersdorf bei Ludwigsstadt, der sich an einen solchen traurigen Zug erinnerte. „Auf der Thüringer Seite sind sehr viele Tote beschrieben“, erklärte Horst Mohr.

Der Wallenfelser Bürgermeister Jens Korn erinnerte an seine Großmutter. Lange habe sie von guten Erlebnissen erzählt. Ein gemeinsamer Filmabend, der das Schicksal einer jüdischen Familie aufzeigte, veränderte die Erzählungen der Großmutter. Wie andere Frauen verschwanden, weil sie Jüdinnen waren, und wie sie die Todesmärsche erlebte. Natürlich wisse man, wer damals Ortsgruppenleiter war. Aber es gebe eine Scham, diese Namen zu veröffentlichen.

Allzu viele Menschen wollten von der Zeit nichts mehr wissen, beklagte Heinz Hausmann. Im Geschichtsunterricht der Schulen fielen jene Jahre viel zu oft weg.