Hildegard und Rudi Reißmann sind seit über 70 Jahren ein Paar. Wie sie ihre Liebe gelebt haben, mag so gar nicht in das Bild einer romantischen Schmetterlinge- im-Bauch-Beziehung passen. Und doch...
Eine Liebe leben und eine lange Ehe führen ist selten ein und dasselbe. Kann es gelingen? Finden wir das Paar, das auch mit 90 noch Händchen haltend durch die Stadt läuft, das immer noch Schmetterlinge im Bauch spürt und bei dem keiner auch nur einen Tag vom anderen getrennt sein will?
Wir haben nicht lange gesucht, wir haben ganz pragmatisch "gnadene Hochzeit" in unsere Tageblatt-Suchmaschine eingegeben und uns überraschen lassen. Die erste, die wir gefunden haben, war die von Hildegard und Rudi Reißmann aus Dörfles-Esbach. Sie feierten im vergangenen Jahr ihre Hochzeit vor 70 Jahren. Ob sie mit uns wohl über die Liebe an sich reden würden? "Naja, da kommen Sie halt mal vorbei", lautete die nüchterne Antwort von Hildegard Reißmann.
Mit unseren 28 Ehejahren gehören mein Mann und ich im Freundeskreis schon zu den Dinosauriern. Die Vorstellung, dass die Reißmanns seit über sieben Jahrzehnten Bett und Tisch teilen, lässt mich ein bisschen ehrfürchtig, aber auch neugierig zum Termin gehen.
Rudi Reißmann hatte schon wieder vergessen, dass ich komme. Seine Frau winkt ab und führt mich ins Wohnzimmer. Der 98-Jährige sitzt in seinem Sessel, die Augen geschlossen. Man könnte meinen, er schläft. Aber das stimmt nicht. Er hört einfach lieber zu. Es ist Hildegard (95), die mir ihre Geschichte erzählt.
Sie nimmt mich mit auf die Zeitreise ihres Lebens. Nach zwei Stunden werde ich das Häuschen Am Hang wieder verlassen: ernüchtert, schmunzelnd, demütig. Was Liebe ist, welchen Raum sie in uns einnimmt und wie sie gelebt wird, dafür gibt es keine festen Definitionen und Regeln. Jede Beziehung hat ihre individuellen Muster. Lediglich die Romantiker und die Träumer tanzen auf einem Nenner. Aber das Leben und die Zeit, in die man hineingeboren wird, auch das Schicksal, bestimmen, wie letztendlich Liebe tatsächlich gelebt wird.
Verbindung seit Schultagen
Hildegard und Rudi Reißmann kennen sich schon seit Schultagen. Und als der stattliche Rudi in den Krieg zog, schrieb ihm Hildegard - wie auch andere aus der Schule - Briefe ins Feld. Nicht, weil sie das Bedürfnis hatte, sondern, weil die Mädchen das machen mussten.
Bei einem seiner Heimaturlaube hat es zwischen den beiden dann gefunkt. Obwohl Hildegard das so nicht ausdrücken würde. "Da kamen wir halt zusammen und das war dann so", lautet ihre Version. Abgemagert kam Rudi 1947 aus russischer Gefangenschaft zurück, sein Zimmer im elterlichen Haus war an Flüchtlinge vergeben, und er musste auf dem Sofa in der Küche schlafen.