Erinnerung Amerikanische Truppen haben am 11. April 1945, in diesen Tagen vor 70 Jahren, das Konzentrationslager Buchenwald befreit. Für den Theinheimer Heinrich Brühl gab es keine Rettung. Er war am 17. Februar 1940 im KZ gestorben - die Nazi-Schergen haben ihm das Leben genommen.
von unserem Redaktionsmitglied
Klaus Schmitt
Theinheim — In schöner, gleichmäßiger Handschrift ist sie geschrieben, die Urkunde. Felix Brühl hält sie zum ersten Mal in seinen Händen. Es ist nicht das Original, sondern eine Kopie. Aber die Schrift ist auch 70 Jahre nach ihrer Entstehung gut zu entziffern. Der Inhalt knapp gehalten, eine schlimme Nachricht. Es ist die standesamtliche Sterbeurkunde für Heinrich Johann Brühl.
Die Todesursache Er ist am 17. Februar 1940 im Alter von 30 Jahren im Konzentrationslager Buchenwald (bei Weimar in Thüringen) ums Leben gekommen. Todesursache: "Lungenentzündung bei Ruhr". Felix Brühl schüttelt den Kopf. Er glaubt nicht an eine "normale" Todesursache wie Lungenentzündung. Viel wahrscheinlicher ist, dass Heinrich Brühl von den Nazis im KZ zu Tode geschunden worden ist.
Die genauen Umstände seines Todes lassen sich nicht mehr ermitteln. Starb er an Erschöpfung, vor Hunger, wurde er gefoltert, medizinischen Experimenten ausgesetzt oder einfach erschossen? Man mag an all das nicht denken, aber es war Realität im Konzentrationslager Buchenwald zwischen 1937 und 1945. Heinrich Brühl war eines von 56 000 Todesopfern der Nazis, die in dem Lager auf dem Ettersberg wüteten. Für Felix Brühl war es der "Onkel Heiner", den die Nationalsozialisten auf dem Gewissen haben.
Felix Brühl ist heute 80 Jahre alt. Er wohnt in Theinheim (Gemeinde Rauhenebrach) und war drei Jahre alt, als die Polizei Heinrich Brühl verhaftete. Der Neffe sah ihn nie wieder. Und obwohl Felix Brühl damals erst wenige Jahre alt war, kann er sich erinnern und "weiß noch genau", wie der Onkel aussah. Öfter hatte der "Onkel Heiner" auf den kleinen Felix aufgepasst.
Ein Himmler-Befehl Heinrich Brühl geriet in die Fänge der nationalsozialistischen Diktatur, weil er als ein Arbeitsscheuer galt. Arbeitsscheu - das ist ein extrem abwertender, diffamierender Begriff, und mit der Wahrheit hat er wenig zu tun. Hintergrund ist der: SS-Führer Heinrich Himmler, einer der skrupellosesten Nazi-Verbrecher, hatte im Januar 1938 per Erlass eine Verhaftungsaktion gegen "Arbeitsscheue" gestartet. Über die Arbeits- und Fürsorgeämter sowie die Polizei wurde der Erlass von ganz oben bis nach ganz unten, bis ins kleinste Dorf durchgesetzt, unterstützt von den örtlichen NS-Vertretern.
Als arbeitsscheu galt, wer zweimal eine ihm angebotene Arbeit ablehnte, wer eine Arbeit nach kurzer Zeit wieder aufgab, oder allgemein Menschen, die am Rand der Gesellschaft standen wie Hausierer, gesundheitlich Beeinträchtigte, Landstreicher, Alkoholkranke, Außenseiter, die sich nicht in die strenge Ordnung der Machthaber einfügten.
Heinrich Brühl war nicht arbeitsscheu. Er hatte Arbeit. Felix Brühl weiß von seinem Onkel, dass er mit einem anderen Theinheimer als Schieferdecker unterwegs war. Vor allem in Niederbayern waren die beiden Theinheimer tätig. In Felix Brühls Verwandtenkreis gab es ein Bild (es existiert heute leider nicht mehr), das Heinrich Brühl freistehend auf dem Gerüst an einer Kirche zeigte.
Der Schieferdecker Heinrich Brühl hatte allerdings nicht immer Arbeit. Er war zudem gesundheitlich angeschlagen, erzählt sein Neffe.
Die Lunge machte ihm zu schaffen.
Verhaftungswelle Heinrich Brühl wurde am 21. April 1938 verhaftet. Die besondere Tragik ist, dass seine Mutter genau an dem Tag, an dem ihr Sohn von der Polizei abgeführt wurde, Nachricht von einer Firma aus der Schweinfurter Großindustrie bekommen hat, wonach ihr Sohn dort eine Arbeit beginnen könne. Es war zu spät. Heinrich Brühl kam in "Schutzhaft" - wieder so ein zynisches, irreführendes Wort - und über Würzburg lieferte ihn die Gestapo (Geheime Staatspolizei) am 18. Mai 1938 im Konzentrationslager Buchenwald ab. Dort bekam er die Häftlingsnummer 3261 und wurde der Kategorie ASR zugeteilt.
ASR bedeutet "Arbeitsscheu Reich". Heinrich Brühls Festnahme fiel genau in eine Verhaftungswelle im Frühjahr 1938, die Folge des Himmler-Erlasses gegen die Arbeitsscheuen vom Januar des gleichen Jahres war.
Der Theinheimer war einer von 64 ASR-Häftlingen aus Mainfranken, wie Franziska Schleupner in ihrem Buch "Arbeitsscheu Reich - Die Sonderaktion der geheimen Staatspolizei im April 1938" beschreibt. Bis August 1938 stieg die Zahl der ASR-Häftlinge in Buchenwald nach anderen Quellen auf 4600 Personen aus dem gesamten deutschen Reich.
Mehrere Untersuchungen beschäftigen sich mit den Hintergründen und Motiven der ASR-Aktion. Danach ist davon auszugehen, dass die Nazis ihre Absicht, gegen Arbeitsscheue vorzugehen, nur vorgeschoben haben. Ihre tatsächlichen Beweggründe sind andere: 1938 steckte Nazi-Deutschland bereits mitten in den Kriegsvorbereitungen, und es mangelte an Arbeitskräften. Allerorten und auch in den Konzentrationslagern, in denen vor allem für die Rüstungsindustrie und für Bauprojekte geschuftet werden musste.
Für diese These spricht, dass ASR-Häftlinge fast nur Männer im besten Alter waren; Frauen und alte Männer brauchten die Nazis nicht. Außerdem sollten die Verhaftungen Schrecken verbreiten und die Bevölkerung disziplinieren nach dem Motto: Wer nicht anpackt, kommt ins KZ. Ein dritter Gesichtspunkt: Die Nazis duldeten nach ihrer Ideologie keine Außenseiter in ihrer Gesellschaft.
Die ASR-Häftlinge, die im Konzentrationslager an ihrem schwarzen Winkel auf der Häftlingskleidung zu erkennen waren, waren "in ihrer großen Mehrheit besonders harten Haftbedingungen ausgesetzt. Neben dem ständigen Terror der SS wurden sie zusätzlich den schwersten und kräftezehrendsten Arbeitskommandos zugeteilt", schreibt die Gedenkstätte Buchenwald. Sie wurden zu Schachtkommandos eingeteilt oder zu Arbeiten im Steinbruch.
Die Strapazen haben viele nicht überlebt.
Heinrich Brühl war im KZ Buchenwald in Block 25, später in Block 23 untergebracht. Nähere Informationen zu seinem Leben in Buchenwald gibt es nicht, erklärt die Gedenkstätte auf Anfrage unserer Zeitung.
Heinrich Brühl starb am 17. Februar 1940. Als Todeszeitpunkt weist die Sterbeurkunde 4 Uhr aus. Seine Leiche wurde im Krematorium der Stadt Weimar verbrannt. Dieses Verfahren war offenbar üblich. Ab Sommer 1940 wurden die Toten im Krematorium auf dem Gelände des Konzentrationslagers eingeäschert. Das Buchenwald-Krematorium war erbaut worden, weil die Stadt mit der Einäscherung der vielen Toten nicht mehr nachkam.
Wo ist die Asche? Heinrich Brühls Asche wurde zunächst im städtischen Krematorium aufbewahrt. Was dann mit der Urne geschah, ist nicht bekannt.
"Es tut mir leid, über den Verbleib der sterblichen Überreste von Heinrich Johann Brühl nichts weiter sagen zu können", bedauert Jens Riederer, der Leiter des Stadtarchivs Weimar. Zurück nach Theinheim kam die Urne mit der Asche jedenfalls nicht.
Von Heinrich Brühl existiert kein Grab. Im Pfarramt von Untersteinbach wurde Monate später (am 16. Juli 1940) eingetragen, dass Heinrich Brühls Leiche am 19. Februar 1940 in Weimar eingeäschert worden ist.
Die Angehörigen in Theinheim wurden über den Tod Heinrich Brühls informiert. "Benachrichtigt worden sind wir", bestätigt Felix Brühl. Aus den Unterlagen der Gedenkstätte in Buchenwald geht hervor, dass die persönliche Habe des Toten am 29. Februar 1940 an die Ortspolizei zur Aushändigung an seine Mutter gesandt wurde. Dort sind die Sachen aber offenbar nicht eingetroffen. "Da ist nichts angekommen", erzählt Felix Brühl.
Der "Onkel Heiner" ist aus dem Leben der Familie Brühl einfach verschwunden.
Kaum darüber gesprochen Aufgearbeitet, wie man heute sagen würde, wurde das Schicksal des Heinrich Brühl, der nur 30 Jahre alt wurde, später nicht. In der Familie wurde, wie Felix Brühl schildert, kaum darüber gesprochen.
Als Kind hatte der jetzt 80-Jährige nur einen Teil dessen mitbekommen, was die Nazis angerichtet haben, was sie seiner Familie angetan haben. Aber eines weiß Felix Brühl heute ganz gewiss: "Die Jungen können sich kein Bild mehr machen von dieser schlechten Zeit."