Zuerst gibt es die Befragung von Jean-René Ruez. Therese Frosch stellt den Chefermittler der Anklagebehörde kalt dar, manchmal vielleicht etwas zu sehr, wie man sich einen solchen Bürokraten vorstellt. So wird aber der Zuschauer erst einmal auf den Stand der Umstände gebracht.
Evakuierung oder Deportation
Das Stück nähert sich also deduktiv dem, worum es in solchen Fällen geht: dem einzelnen Mord mehrerer Täter an zahlreichen Opfern. Das allerdings ohne direkte Darstellung der Tat, sondern indirekt anhand der Darstellung des Gerichtsprozesses.
Das ist natürlich klug, denn die Gemengelage ist kompliziert und für Außenstehende ist es schwierig, eine Position zu beziehen, für die sie nicht gleich von der Gegenseite verteufelt wird.
Der Prozess aber ist im Gegensatz zu dem Massaker 1995 gut dokumentiert. Folgt man den drei Befragungen, ist man erst einmal betroffen von der rohen Gewalt, von der berichtet wird und die anhand von Bildern und Karten eindrücklich vor Augen geführt wird.
Zwangsläufig stellt man sich aber auch die einzige Frage, zu der man als Unbeteiligter und Deutscher berechtigt ist: Wie sind die Vereinten Nationen mit dem Völkermord umgegangen?
Dazu dient die Befragung von Oberst Karremans, dessen Hilflosigkeit von Daniel Reichelt gut getroffen ist: "Ich fragte, was mit meinen Waffen passiert sei und dass ich sie gerne zurückhätte."
Karremans war für den Schutz der Zivilbevölkerung zuständig. Interessant seine Wortwahl: Während er von der "Evakuierung" der in Lagern gesammelten Bevölkerung durch die serbische Armee sprach, bezeichnete das Gericht den Abtransport zu den Gräbern als "Deportation".
Sprache bildet das Denken und es hilft, wenn die Sprache klar ist, wie vor Gericht, um die feinen Unterschiede heraushören zu können.
Wie wenig die Zuschauer sich mit ihrer Meinung aus dem Fenster lehnen dürfen, erfahren sie in den Erzählungen von dem bosnisch-serbischen Milizionär Dražen Erdemovic. Johannes Haußner verleiht ihm den nötigen Grusel, beeindruckend aber auch die verzweifelte Menschlichkeit, die in seinen Antworten steckt
Gestellt hatte er sich freiwillig. Er hatte eine Frau und versuchte, irgendwie seine Familie zu ernähren. Dazu wechselt er die Armeen und Seiten und wird, als er mit Gewehr in der Reihe hinter den Muslimen steht, mit einer einfachen, aber für einen Menschen mit Gewissen nicht richtig zu beantwortenden Frage konfrontiert: Wenn du nicht schießt, kannst du dich dazu stellen. Was macht man in solch einer Situation?
Reizmittel für moralisches Denken
Es ist der Fokus auf jene Akteure, die die Gemengelage vor Ort so plastisch vor Augen führen. Was der Zuschauer damit macht, welche politischen oder moralischen Schlüsse er daraus zieht, obliegt ihm selbst.
Dass am Ende des Stückes die Schauspieler noch darüber reflektieren müssen, ob sie sich nun, nachdem sie ihrer Pflicht zur Erinnerung genüge getan haben, besser fühlen, hilft dabei nicht. Relativ schwach bleiben die Antworten auf die Frage, der sich am Ende die Schauspieler stellen müssen: Warum haben Sie ausgesagt?
Wenn dort der Satz fällt, "wir machen das für Leute, die ähnlich denken wie wir", dann macht das Theater nichts anderes als der Völkergerichtshof in Den Haag: ein Schauprozess der Selbstbestätigung. Das Stück war es nicht, nur das etwas unbeholfene Gespräch am Ende. Dennoch: Notwendig ist beides, Aufarbeitung und Diskussion. Dieses Stück ist ein Reizmittel für moralisches Denken.