"Die Luft anhalten, bis es vorübergeht"

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Sigismund von Dobschütz
Sigismund von Dobschütz
 

Sigismund von Dobschütz Die mit dem Grimme-Preis ausgezeichnete Drehbuchautorin Annette Hess ("Weissensee", "Ku'damm 56/59") hat es auch in ihrem Debütroman "Deutsches Haus" dank ihrer Erzählkunst aus...

Sigismund von Dobschütz Die mit dem Grimme-Preis ausgezeichnete Drehbuchautorin Annette Hess ("Weissensee", "Ku'damm 56/59") hat es auch in ihrem Debütroman "Deutsches Haus" dank ihrer Erzählkunst ausgezeichnet geschafft, nicht nur die Stimmung der sechziger Jahre in der noch jungen Bundesrepublik treffend wiederzugeben, sondern vor allem den Nachgeborenen die besondere Problematik jener Dekade in der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung zwischen den Generationen verständlich zu machen.

In Frankfurt wird 1963 der erste Auschwitz-Prozess vorbereitet. Unerwartet wird die junge Dolmetscherin Eva, Tochter der Wirtsleute Bruhns, von der Staatsanwaltschaft zur Übersetzung der Aussagen polnischer Zeugen angefordert. Sowohl ihre im Nazi-Regime verstrickten Eltern, heute Inhaber der Wirtschaft "Deutsches Haus", als auch ihr streng konservativer Verlobter, künftiger Erbe eines großen Versandhandels, sind dagegen. Doch Eva nimmt den Auftrag an. Im Laufe des Prozesses erfährt die junge Frau, die als Kleinkind die Kriegsjahre erlebt hat, erstmals vom KZ Auschwitz und vom Holocaust. Sie ahnt nicht die Folgen dieses Prozesses für die westdeutsche Bevölkerung und ihr Leben. Am Ende bricht sie mit ihrem Elternhaus und löst die Verlobung.

Im Roman geht es um die Auseinandersetzung zwischen der damals über die Kriegsgräuel schweigende Elterngeneration und die kritisch nachfragende Generation ihrer Kinder. Auch im "Deutschen Haus" haben Evas Eltern die Kriegsjahre verdrängt, wollen vom Auschwitz-Prozess nichts wissen, sondern widmen sich ausschließlich ihrer Zukunft. Annette Hess beschreibt dies treffend in einem Satz: "Nicht sprechen. Nicht bewegen. Die Luft anhalten, bis es vorübergeht. Und niemand wird zu Schaden kommen." Überhaupt ist es der Autorin gelungen, die Stimmung in der wirtschaftlich wieder aus Trümmern erstarkenden Bundesrepublik zu beschreiben: Viele halten den Prozess für Verschwendung von Steuergeld; Mitläufer des Nazi-Regimes wie Evas Eltern beschwören, nichts von Gräueltaten gewusst zu haben, und sogar die aktiv beteiligten Angeklagten bestreiten alles. Annette Hess lässt in ihrem Roman alle Seiten zu Wort kommen. Der Roman ist locker geschrieben, mag vordergründig als leicht lesbarer historischer Roman erscheinen. Doch in heutiger Zeit des wieder erstarkenden Rechtsradikalismus ist er eine deutliche Warnung. Auf die ängstliche Frage ihres kleinen Bruders, was Vati und Mutti denn gemacht hätten, antwortet Eva nur: "Nichts."