Den Weltraum biegen

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Am Sonntag erhält die türkische Autorin Sema Kaygusuz den Coburger Rückert-Preis. Ihre auf Deutsch vorliegenden Bücher schwimmen in Wein und Gold und schwarzer Galle.

Carolin Herrmann

Da waren die Juroren zum diesjährigen, vierten Coburger Rückert-Preis doch sehr erstaunt. Die Islamwissenschaftlerin Erika Glassen, die Orientalistin Claudia Ott als Vorsitzende und der frühere Geschäftsführer des Hanser-Verlages, Michael Krüger, sollten diesmal in die Türkei blicken. Dort stießen sie nicht nur auf Schriftsteller von höchstem literarischen Rang, sondern entgegen unseren Erwartungen auch auf zahlreiche Schriftstellerinnen, herausragende noch dazu.
Der Coburger Rückert-Preis wird seit 2008 verliehen, um im Geiste des Sprachgenies als Akt der Völkerverständigung die Literatur des Vorderen Orients in den Blickpunkt zu rücken. "Weltpo esie ist Weltversöhnung", lautete Rückerts Motto, was unter den immer vehementeren Konfrontationen mit und unter den islamischen Staaten an Bedeutung gewonnen hat.
Am Sonntag, dem 150. Todestag Friedrich Rückerts, wird der Rückert-Preis bei einer Feierstunde im Rathaus an Sema Kaygusuz vergeben. Sie ist eine junge Vertreterin der von der Jury als überraschend eigenständig beschriebenen türkischen Gegenwartsliteratur, die sich der weltweiten Anpassung an die amerikanische Literatur bisher verweigert habe.
Tatsächlich führt uns Sema Kaygusuz, 1972 an der Schwarzmeerküste geboren, nicht nur in eine uns fremde Lebenskultur, sondern zugleich in eine andere Sprachwelt, die uns im Deutschen durch die Übersetzungen von Sabine Adatepe sowie von Barbara und Hüseyin Yurtas vermittelt wird. Sabine Adatepe kommt am Sonntag zusammen mit Sema Kaygusuz nach Coburg. Die Sprachwelt Sema Kaygusuz ist leicht fließend und verständlich, schreitet aber unbemerkt und wie selbstverständlich in poetische Übersinnlichkeit, psychologische Offenbarung, immer wieder auch in mythologische Weiten. Sie führt in menschliche Seelengründe.
Dass orientalische Erzähler wort- und bilderreich in vielfältigen Arabesken von einer Geschichte in die andere reisen, daran sind wir gewöhnt, erst recht, seit uns der Syrer Rafik Schami immer wieder besucht. Ist es heute wie früher ein Bedürfnis orientalischer Erzähler, das Besondere im großen Fluss des Lebens darzustellen, stets im Zusammenhang?
Auch die beiden in Deutsch vorliegenden Bücher von Sema Kaygusuz folgen grundsätzlich diesem Prinzip, finden aber alles andere als weitschweifend zu einer ungemein eindringlichen poetischen Konzentration, mit bisher nie gesehenen Bildern, die sich in unsere Köpfe, in unsere Psyche schieben.


Sei schafft die Welt

Der bei Suhrkamp veröffentlichte Roman "Wein und Gold" spielt auf einer Ägais-Insel und dringt von der Erzählerin aus in immer tiefere Schichten und weitere Geschichten dieser Gesellschaft. Im windig-rauen Klima sind die Menschen ihren Abgründen ausgeliefert. Leylans würgendes Verhängnis ist ihr Vater, ein aus Liebe und Verlust zum Trinker Gestürzter, der Leylan die Erklärung der Familiengeschichte verweigert.
Von den Dorfbewohnern des Mordversuchs verdächtigt, keltert sie in Wirklichkeit, den alten Lehren des Galenos folgend, selbst einen Wein, der den Vater zum Sprechen bringen und heilen soll. Als sie zuvor den vom Vater hergestellten Wein prüft, eröffnet sich dessen Charakter: "Was meine Mundhöhle erfüllte, war das verrostete Gewissen meines Vaters... Ich erkannte dass Kutsi Karaca ein viel grausamerer Mann war, als ich vermutet hatte." Im zweiten Teil des Romans wird Leylan zur Schöpferin einer neuen Wirklichkeit, indem sie das Entsetzen des Entdeckten durch neue Deutung in einen eigenen Mythos verwandelt.


Melancholie des Lebens

"Schwarze Galle" versammelt sieben eigenständige, eindringliche Geschichten, die sich im Blick auf die Istanbuler Dichterin Birhan Keskin entfalten, auf mehreren Ebenen den Erscheinungsformen der Melancholie nachspürend, dabei wie selbstverständlich in freie poetische Beschreibung greifend, in eine überreale Traumebene: "Der Minute entgegensehen, die nicht weiß zu vergehen / hieß ganz draußen stehen, fern des lineraren Geschehens..."
Außerhalb des linearen Geschehens dringt Sema Kaygusuz in uns beherrschende (Ab-) Gründe, die nur durch die Wirkung der Dichtung sichtbar werden. Der Gärtner einer Wohnanlage ruft in den Bewohnern unerklärliche Todesangst hervor. Sie versuchen sich abzuwenden. Doch die Hunde geraten außer sich bei seinem Anblick. "Uns schauderte vor dem Gärtner in der Vorstellung der Hunde. Um das Hundedenken zu erlangen, hätten wir den Weltraum biegen, ein Hund sein, den Gärtner mit schwarz-weißem Sinn wahrnehmen müssen."

Sema Kaygusuz: Wein und Gold. Roman. Suhrkamp Verlag 2008, 388 Seiten, 24,80 Euro.

Sema Kaygusuz: Schwarze Galle. Geschichten. Matthes & Seitz Berlin 2013, 17,90 Euro.