Den Lebensmut hat die an Multiple Sklerose (MS) erkrankte Hanna Hermine Rauch bei allen Schmerzen und Entbehrungen nicht nehmen können. Das verdankt die 58-Jährige auch der Deutsche-Multiple-Sklerose-Gesellschaft, die in diesem Jahr ihren 60. Geburtstag feiert.
Hanna Hermine Rauch hatte gerade die Wände ihrer Küche getüncht, als ihr plötzlich schummrig wurde und sie nicht mehr richtig laufen konnte. Die Farbgerüche, dachte sie sich, und machte sich auf den Weg zum Arzt.
Der schickte Rauch, die in Wirklichkeit anders heißt und ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, zum Neurologen. Die nächste Station hieß dann schon Krankenhaus.
Dort wurde Hanna Hermine Rauch punktiert und drei Wochen lang mit Cortison-Infusionen behandelt. Dann war alles wieder so wie früher. Die Beschwerden waren so plötzlich weg, wie sie gekommen waren. Die Diagnose "Multiple Sklerose MS" vermerkten die Ärzte nur auf dem Befund. Hanna Hermine Rauch und deren Eltern verschwiegen sie dagegen die Diagnose. Wohl aus Rücksicht, wie Rauch heute vermutet.
Schleichend und unbemerkt Wahrscheinlich hätte Hanna Hermine Rauch, die damals 19 Jahre alt gewesen ist, so oder so nicht groß über den Vorfall und dessen Grund nachgedacht. Sie stand damals mit beiden Beinen im Leben, besuchte die Fachoberschule und arbeitete während ihres Praktikums mit spastisch gelähmten Menschen.
Heute ist Rauch selbst auf den Rollstuhl angewiesen. Der Grund: MS. Die Vergangenheit hat sie quasi eingeholt. "Damals konnte mir geholfen werden, weil ich sofort richtig behandelt wurde. Aber als die MS zehn Jahre später das zweite Mal auftrat, verlief es ganz anders. Schleichend und fast unbemerkt", erzählt die heute 58-Jährige.
Wieder hatte es harmlos anfangen. Manchmal ging sie ein wenig schwankend, und beim Treppenlaufen musste sie sich zeitweilig festhalten. Ab und an glaubte sie eine Schwäche in ihrem Körper zu spüren, vor allem in den Beinen. Irgendwann fiel ihr dann auf, dass sie das Gleichgewicht nicht richtig halten konnte.
Aber die körperlichen Probleme und die Mutmaßungen darüber schleppte sie alleine mit sich herum. Bis ihr ein Freund, der ihre körperlichen Probleme schon länger beobachtet hatte, knallhart auf den Kopf zusagte: "Du bist doch behindert, geh endlich zum Arzt."
Wenig später saß sie beim Arzt. Ab jetzt sollte ihr Leben stark von zwei einfachen Buchstaben beeinflusst werden: MS.
Krankheit mit 1000 Gesichtern MS, das ist eine Krankheit mit 1000 Gesichtern. Kaum ein Verlauf gleicht dem anderen, sagt die Deutsche-Multiple-Sklerose-Gesellschaft (DMSG).
In diesem Jahr feiert die DMSG ihren 60. Geburtstag. "MS bedeutet nicht zwangsläufig, im Rollstuhl zu sein. Es gibt auch viele MS- Kranke, die noch berufstätig sind und täglich ihre acht Stunden leisten", erklärt Elisabeth Kaun von der DMSG Oberfranken in Bayreuth.
Kaun ist die Ansprechpartnerin für die Selbsthilfegruppen in Forchheim, Bayreuth, Ebermannstadt, Pegnitz und dem Landkreis Tirschenreuth. Einmal jährlich besucht sie die Gruppen und informiert über rechtliche Veränderungen, Medikamente und Therapien. "In den vergangenen 20 bis 30 Jahren hat sich hier viel getan, gerade hinsichtlich der Therapien. Welche mildern ab, welche vergrößern die Abstände zwischen den Schüben", erklärt Kaun.
Die Landesgruppe Bayern wurde vor 53 Jahren von der Ordensschwester Annelis Wirsing gegründet. Die Schwester besuchte damals MS-Patienten zuhause und fand dort bedrückende Situationen vor: Viele Patienten waren schlicht unterversorgt.
Ärzte haben dazugelernt Über MS wusste man seinerzeit noch nicht so viel. Ob die Zahl der Kranken mit den Jahren zugenommen hat, lässt sich deshalb auch nur schwer sagen. "Früher haben die Ärzte seltener punktiert, und auch Kernspintuntersuchungen wurden nicht so oft durchgeführt. Man hat zugewartet. Nun sind die Ärzte stärker sensibilisiert", glaubt Kaun.
Die Landesverbände und ihre Selbsthilfegruppen helfen den Betroffenen: Sie machen Mut und klären Fragen. Mittlerweile ist ein großes Selbsthilfenetz entstanden, mit 25 Selbsthilfegruppen in Oberfranken und 205 im gesamten Landesverband.
Auch Hanna Hermine Rauch schätzt deren Unterstützung: "Die DMSG hat mich gerettet. Sie haben mich sehr unterstützt. Wenn ich sie nicht hätte", sagt Hanna Hermine Rauch und lässt den Satz mit drei Pünktchen offen. Fast zu viele Beispiele fallen ihr ein. "Ohne die DMSG hätte ich mit meinem Sohn nie Urlaub machen oder an einer Familienfreizeit teilnehmen können", erzählt sie.
Rauch wurde auch mit ihrem Rollstuhl dorthin gefahren, und es waren auch Betreuer vor Ort. Diese Ausflüge und die regelmäßigen Gespräche sind es, die MS-Kranke aus ihrer oft vorhandenen Isolation reißen. Genau auch wie die monatlichen Treffs in der Selbsthilfegruppe. Aber dort war Rauch schon länger nicht mehr. Längeres Sitzen schadet ihren Beinen.
"Manchmal zieht es mich in die Schwermut, in die Depression. Vor allem bei schönem Wetter, wenn man sieht, was die anderen alles tun können. Oder wenn ein Wochenende wieder stinklangweilig war", sagt Rauch.
Dankbar ist sie trotzdem - dass sie ihre Hände noch bewegen kann und auch die Sprache noch gut funktioniert. Sicher gibt es viele Dinge, die ihr das Leben erleichtern würden. Aber diese Dinge kosten Geld.
Dankbar für jede Hilfe Mit einem Außenlift könnte sie sich in ihren Außenrollstuhl hieven und an schönen Tagen damit durch den Ort fahren. Oder ins umgebaute Auto.
So ist sie auf Hilfe anderer angewiesen. Zum Putzen oder einkaufen. Und diese Hilfe kostet Geld. Nur die Nachbarn helfen schnell, wenn sie sehen, dass Rauch Hilfe braucht. "Ich bin dankbar für die vielen guten Seelen um mich herum. Ich bin bei weitem nicht so einsam wie andere."
Hanna Hermine Rauch will kein Mitleid. Sie betrachtet ihre Krankheit mit den beiden Buchstaben als einen Zustand, in dem man sie noch etwas lernen kann. "Geduld muss ich lernen und Verzicht." Verzichten muss sie in der Tat auf vieles im Leben. Sie muss es aushalten, das weiß Hanna Hermine Rauch . "Das Akzeptieren kann mir niemand abnehmen", sagt sie.