Erlanger Pflegeheim tut MS-Kranken gut

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Diese beiden Bewohner der MS-Station des AWO-Sozialzentrums, Norbert Denkler (links) und Rainer Böhm haben einen der wenigen Pflegeplätze bekommen. Fotos: Christian Bauriedel
Diese beiden  Bewohner der MS-Station des AWO-Sozialzentrums, Norbert Denkler (links) und Rainer Böhm  haben einen der wenigen Pflegeplätze bekommen.  Fotos: Christian Bauriedel
Enno de Haan
Enno de Haan
 

Norbert Denkler und Rainer Böhm haben Multiple Sklerose und fühlen sich im AWO-Sozialzentrum in Erlangen gut betreut. Aber solche speziellen Pflegebereiche für MS-Kranke gibt es äußerst selten.

Rainer Böhm aus Uttenreuth ist ein fröhlicher Mensch. Ein stolzer, 65-jähriger Mann, der, wenn es um seine Lebensgeschichte geht, nicht viel Aufhebens macht. Es liegt ihm fern, auf die Tränendrüse zu drücken. Er will nur, dass man versteht, wie es sich anfühlt.

Rainer Böhm ist an MS erkrankt, Multiple Sklerose, die Autoimmun-Erkrankung. Er sitzt im Rollstuhl. Es ist ein elektrischer, der sich mit einem kleinen Steuerknüppel bewegen lässt. Sein Körper ist nur noch zu wenigen Bewegungen fähig. Es sei ein Gefühl, als krabbelten Tausende Ameisen auf dem Körper. Ein Gefühl, als bewege sich das Knochenskelett, aber die Haut bleibt stehen. "Es fühlt sich an, als habe man 30 Liter Blut mehr im Körper. Und das will raus", sagt er.

Die Lähmung kam über Nacht


Wenn er vom Ausbruch der Krankheit Anfang der 80er Jahre erzählt, liegt der Ton seiner Stimme in einiger Distanz zu seiner Geschichte. Damals war er 33 Jahre alt. Der erste Schub kam ganz plötzlich. Sprichwörtlich von heute auf morgen. Er ist gesund zu Bett gegangen, im Glauben daran, dass morgen wieder ein ganz normaler Tag beginnt. Doch als er am nächsten Tag aufwachte, musste er feststellen, dass er seinen Körper kein Stück mehr bewegen konnte. "Ich war von Kopf bis Fuß gelähmt. Schnaufen konnte ich, der Rest war weg. Ich konnte nur noch um Hilfe rufen."

Was er sagt, formuliert er bedächtig und klar. Wohl hat er die Fakten seiner Erkrankung auch schon häufig erzählt, so dass er vieles nicht immer und immer wiederholen und emotional durchleben möchte. Blickt man ihm beim Erzählen in die Augen, spürt man ein inneres Beben. Man spürt es, wenn er Sätze sagt wie: "Es ist ein Trugschluss zu denken, man könne noch einmal das haben, was man hatte. Was weg ist, ist weg." Oder: "Das Leben ist so schön und ich will noch so viel haben."

Nach dem ersten Schub kam damals im Krankenhaus sofort die Diagnose MS. Mit einer Cortison-Kur war es Rainer Böhm möglich, nach acht Wochen die Klinik wieder zu verlassen. "Ich war völlig fit und zeigte keine Symptome mehr. Bis zum nächsten Schub. Und irgendwann ist dann etwas geblieben."

Das AWO-Sozialzentrum in Erlangen ist zum neuen Zuhause für den aus Uttenreuth stammenden Rainer Böhm geworden, als es daheim und in der Kurzzeitpflege einfach nicht mehr ging. In der Büchenbacher Anlage gibt es seit 1995 einen speziellen Wohnbereich für MS-Kranke.

Diagnose MS erst letztes Jahr


Böhm hatte Glück im Unglück. Er bekam einen der wenigen, speziell auf MS-Kranke ausgelegten Pflegeplätze. "Bayernweit gibt es nur eine Handvoll solcher MS-Stationen", sagt Enno de Haan, der Leiter der AWO-Einrichtung. Dabei gebe es einen großen Bedarf. Auch in Büchenbach sei die Nachfrage enorm. Leider könne man aber nur elf Kranke aufnehmen; mehr sei nicht finanzierbar, sagt Enno de Haan: "Der Personalaufwand ist in der MS-Pflege sehr groß. Die bürokratische Belastung mit der Pflegedokumentation ist ein Wahnsinn. Hier wird viel Potenzial vergeudet, das in der Pflege dringender gebraucht wird."

Auch Norbert Denkler aus Erlangen wohnt in der AWO-Station. Auch er hat MS und sitzt im Rollstuhl. Im Unterschied zu seinem Mitbewohner Rainer Böhm hat er die Diagnose erst im letzten Jahr bekommen. Symptome gab es vorher schon, sodass seine Schwester bereits früher gedacht hat, es könnte MS sein. "Schon als junger Mensch habe ich öfter mit der Hand gezittert. Die Leute haben sich nichts weiter gedacht. Ich war ja auch ein etwas ängstliches Kind", sagt Denkler. Als die Schübe immer heftiger wurden und er häufiger stürzte, kam er in die Klinik. Aber auch dort gab es zunächst keine Gewissheit, worum es sich bei dem 47-Jährigen genau handelt. Erst wurde auf Hepatitis C getippt. Von der Neurologie wurde er zur Reha in die Klinik am Europakanal geschickt. Erst in der Kopfklinik fand man später dann heraus, dass es MS ist.

Christine Weigel ist Pflegerin in der MS-Abteilung der AWO in Erlangen. Zur Vorbereitung auf die speziellen Bedürfnisse der MS-Patienten hat sie eine Schulung bei der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) gemacht. "Die Krankheitsbilder sind sehr unterschiedlich. Auch die Stadien der Erkrankung sind extrem variabel", sagt sie bei einem Runden-Tisch-Gespräch. Das fange beim Alter an. Während in einem Pflegeheim vorwiegend Senioren leben, müsse sich die MS-Pflege auch auf junge Menschen ausrichten. Der jüngste Bewohner in Büchenbach ist 39, der älteste 68 Jahre alt. "MS wird oft als die Krankheit mit den 1000 Gesichtern bezeichnet. Den einen, typischen MS-Patienten gib es nicht", erklärt Gisela Radizewski von der Deutschen MS Gesellschaft (DMSG). Die körperlichen Einschränkungen bei MS reichen von Ataxie, also Störungen des Bewegungsablaufs, über Spastiken, also Verkrampfungen der Muskeln, bis hin zur Lähmung des ganzen Körpers. "Der Verlauf kann ganz unterschiedlich sein. Es gibt auch Menschen, bei denen die Krankheit keine Symptome zeigt", erklärt die Sozialpädagogin der DMSG. Ergo- und Physiotherapie, Lymphdrainage und Massagen sind die typischen Behandlungen bei MS.

Für Pflegerin Christine Weigel war ein wichtiger Teil der 50-stündigen Schulung auch die psychische Komponente der Krankheit: "Es ist natürlich hart, wenn man starke körperliche Beeinträchtigungen hat, aber geistig voll bei der Sache ist." Im Kurs habe sie gelernt, die Gefühlslage der Bewohner besser zu verstehen.

Positive Lebenseinstellung


Spricht man mit Norbert Denkler und Rainer Böhm, spürt man eine positive Einstellung. Natürlich erzählen sie von den Einschränkungen. Das, was Rainer Böhm meint, wenn der sagt "was weg ist, ist weg", sind für die meisten Menschen alltägliche Handgriffe. Eine Kaffeetasse heben, Brot schneiden, sich im Bett drehen. All die kleinen Dinge des Tages, die wir tun, ohne sie überhaupt zu bemerken.

Aber die beiden haben trotz Krankheit den Humor nicht verloren. Man merkt, dass sie einen Umgang mit der MS gefunden haben. "Wozu soll ich mir von der Krankheit auch noch meinen Spaß am Leben nehmen lassen?", fragt Böhm. Sie habe ihm schon seine Bewegungsfähigkeit genommen. "Das einzige, was bei mir noch funktioniert, ist das Mundwerk", meint er selbstironisch schmunzelnd, als er und Norbert Denkler am Ende des Gesprächs im Rollstuhl den Gang hinunter fahren.