Mit der Nähe zu anderen alt werden

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Henning Scherf heißt alle Gäste per Handschlag willkommen. Fotos: Helke Renner
Henning Scherf heißt alle Gäste per Handschlag willkommen. Fotos: Helke Renner
Besonders herzlich begrüßt er Wolfgang Leinen.
Besonders herzlich begrüßt er Wolfgang Leinen.
 

Henning Scherf ist 76 Jahre alt und ein bekennender WG-Bewohner. Der frühere Bremer Bürgermeister und Buchautor spricht in Coburg über das Altern in Würde und ohne Angst vor Siechtum und Einsamkeit.

Eine Lesung aus seinem Buch "Altersreise - Wie wir alt sein wollen" war angekündigt. Die gibt es nicht. Dafür Geschichten vom Altwerden, die Mut machen und die Angst vor diesem Prozess nehmen, dem niemand entgeht. Zunächst aber begrüßt Henning Scherf alle seine Gäste und späteren Gesprächspartner mit Handschlag. Und das sind viele, der große Saal im Pfarrzentrum St. Augustin ist proppenvoll. Bei Wolfgang Leinen bleibt Henning Scherf etwas länger stehen - die beiden kennen sich. "Ich bin mindestens genauso lange SPD-Mitglied wie er", erzählt Wolfgang Leinen. "Im Frühherbst vergangenen Jahres haben wir uns das letzte Mal in Bremen getroffen. Jetzt hat er mir Grüße an Norbert Kastner und Norbert Tessmer ausgerichtet."
Und dann geht es los.
Irmgard Clausen eröffnet den Abend im Namen der beiden Veranstalter, Hospizverein Coburg und Buchhandlung Riemann, mit den Worten: "Es braucht Mut, sich mit etwas zu beschäftigen, das uns allen dräut." Henning Scherf sagt gleich, dass er mit seinen Gästen genau darüber reden möchte - über das Altwerden, das nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel sei. "Die kleinen Mädchen von heute werden im Durchschnitt 100 Jahre alt. Das heißt, die Hundertjährigen haben die größte Zuwachsrate." Die Frage sei nur, wie dieses Alter gestaltet werden kann. Und dann erzählt Henning Scherf die Geschichte von der 120-Jährigen, die ihr Haus im Alter von 90 Jahren an einen Anwalt auf Rentenbasis verkauft und den Mann überlebt hat.
Doch das sind heute noch Ausnahmen. Dennoch hat der Autor auf seiner "Altersreise" durch acht Pflege- und Demenz-Wohngemeinschaften in Deutschland erlebt, dass alte Menschen trotz Demenz oder anderer körperlicher Einschränkungen würdevoll leben können. "Das geht, wenn sie es schaffen, in der Gemeinschaft zu wohnen und nicht allein", erläutert er. Wichtig sei auch, bis ins hohe Alter etwas zu tun zu haben, einbezogen und nicht nur versorgt zu sein. In den Wohngemeinschaften, die er besucht habe, funktioniere das dadurch, dass die Menschen so viel wie möglich selbst machen, zum Beispiel Speisen zubereiten, und sie dann zusammen essen.

Zusammen singen und spielen

Oder singen. "Ich habe erlebt, dass Demenzerkrankte, die nicht mal mehr ihren Namen wissen, sich an Liedtexte erinnern, die sie aus ihrer Jugend kennen." Auch die Begegnung oder das Zusammenleben mit Kindern habe einen sehr positiven Effekt. Henning Scherf erzählt von der Frau, die im Rollstuhl sitzt und drei Jahre lang nicht mehr gesprochen hat. Er sei mit ihr zu einem Spielplatz gegangen, ein kleiner Junge habe einen Fußball in ihre Richtung geschossen. "Die Frau hat ihn aufgehoben und mit dem Kleinen geredet. Es war wie ein Wunder." Inzwischen spreche sie zwar immer noch nicht mit Erwachsenen, wohl aber mit kleinen Kindern. Ähnlich lief es mit dem früheren Fußballtrainer, der mit Freude und Leidenschaft mit Jungs Fußball spielt, ansonsten aber nur als ewiger Meckerer bekannt sei.
"Wir sollten alte Leute nicht als Last empfinden, sondern auf sie zugehen, sie einbeziehen. Wir müssen zusammenrücken und dürfen uns nicht vergessen." Dieses Zusammenrücken erlebt Henning Scherf in der Wohngemeinschaft im Bremer Bahnhofsviertel, in der er und seine Frau seit über 27 Jahren leben. "Wir haben uns schon mit Mitte 40 andere Leute gesucht, mit denen wir einen Ort erfinden wollten, der uns bis zum Tod zusammenhält", erzählt er.
Vier Jahre lang haben sie gesucht und dann das Passende gefunden. Zu zehnt waren sie damals. "Diejenigen, die Häuser hatten, haben sie verkauft. Zusätzlich mussten wir einen Kredit aufnehmen." Nun leben sie da zusammen und trotzdem autonom. Küche und Nasszelle sind privat, ansonsten werde alles reihum gemeinsam genutzt. Problemlos sei der Prozess der Annäherung und das Zusammenleben nie gewesen, gesteht Henning Scherf auf Nachfrage aus dem Publikum ein. Er habe aber erlebt, dass stets die Frauen ausgleichend wirken konnten. "Die Männer sind verstummt, wenn es Krach gab."

Gelebter Hospizgedanke

Aber die Freundschaft im Haus, das gemeinsame Frühstücken, Urlaubmachen, das Auto und die Bücher gemeinsam zu nutzen, sei sehr viel mehr wert. Zweimal hat die Gemeinschaft auch schon Mitbewohner in den Tod begleitet: eine frühere Schauspielerin und ihren Sohn. "Wir haben abwechselnd bei der Frau übernachtet, um ihr die Angst zu nehmen." Der Sohn durfte sich aussuchen, bei wem er seine Nächte verbringen will - fünf Jahre lang. Die Zuhörer sind betroffen von dieser Geschichte. Doch Henning Scherf, der sich selbst als Optimist bezeichnet, lässt nicht zu, dass das Gespräch abreißt. Er fordert Heinrich Arnold, Pfarrer aus Untersiemau, auf, von seinem geplanten Wohnprojekt zu erzählen, für das er noch Mitstreiter sucht und das auf einem Grundstück mit mehreren Häusern realisiert werden soll. Und Carmencita Hartwig äußert spontan die Idee, in Coburg nach einer geeigneten Immobilie zu suchen. Auf einer Liste am Saal-Eingang können Interessenten gleich ihre Kontaktadressen hinterlassen.