Kinder vor Gewalt im Kindergarten schützen

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Reinhold Ehl plädiert für Freiräume in der Kindererziehung: "Gebt ihnen Zeit, sich zu entfalten, und gebt ihnen Orientierung, denn sie brauchen Halt und Freiraum gleichermaßen. Und gebt ihnen Zeit für gemeinsames Erleben in der Familie. "CT-Archiv
Reinhold Ehl plädiert für Freiräume in der Kindererziehung: "Gebt ihnen Zeit, sich zu entfalten, und gebt ihnen Orientierung, denn sie brauchen Halt und Freiraum gleichermaßen. Und gebt ihnen Zeit für gemeinsames Erleben in der Familie. "CT-Archiv

Was Jugendamtsleiter Reinhold Ehl über "Seelenprügel" denkt und wie in Kitas der Gewalt von Erzieherinnen gegenüber Kindern vorgebeugt werden kann.

Gewalt in Kindergärten - das will im Kopf nicht zusammenpassen. Dennoch schildert die Psychologin Dr. Anke Ballmann in ihrem aktuellen Buch "Seelenprügel" wie Kinder von Erziehern regelrecht misshandelt werden (siehe dazu ). Dass es sich dabei um Ausnahmen handelt, versteht sich. Dennoch kommt es wohl öfter vor als Eltern denken. Reinhold Ehl, Leiter des Amtes für Jugend und Familie schildert die Situation in Coburg und zeigt präventive Maßnahmen auf.

Herr Ehl, hatten Sie als Jugendamtsleiter und zuständig für die städtischen Kindergärten mit diesem Thema schon zu tun?

Reinhold Ehl: Leider ja. Zwar nicht in den eigenen Einrichtungen der Stadt Coburg, aber wir mussten in einigen wenigen Einzelfällen, in die Einrichtungen in freier Trägerschaft involviert waren, von Amts wegen tätig werden. Schließlich gehört es zu den vielfältigen Aufgaben eines Jugendamtes, Hinweisen auf körperliche Gewalt und/oder seelische Misshandlung nachzugehen. Und dieser Schutzauftrag, das Kindeswohl zu schützen, gilt für Familien wie Einrichtungen gleichermaßen.

Ein Grund für gewalttätiges Handeln mag zuweilen an persönlicher Überforderung und Stress durch Personalmangel sein. Welche Möglichkeiten hat der Träger/Arbeitgeber vorzubeugen bzw. einzuschreiten?

Da gibt es sogar eine ganze Reihe von Möglichkeiten. Der Träger hat zunächst den gesetzlichen Auftrag, für eine ausreichende Zahl von Fachkräften in Abhängigkeit von der Anzahl der betreuten Kinder zu sorgen. Selbstverständlich wird dieser Anstellungsschlüssel in allen Einrichtungen in Coburg eingehalten, zum Teil ist er sogar wesentlich günstiger. Darauf haben wir auch ein wachsames Auge.

Aber die reine Quantität genügt natürlich nicht. Es geht immer auch um die Qualität der Erziehungsarbeit in den Einrichtungen und letztlich um qualifiziertes Personal. Hier bieten wir als Jugendamt unter anderem Qualifizierungskurse für das gesamte Team oder speziell für Leitungskräfte an. Jeder Träger in Coburg weiß, dass es mittlerweile zu den ganz selbstverständlichen Standards gehört, Supervision oder Coaching für das gesamte Team oder für einzelne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anzubieten.

Nach unserer Kenntnis wird das von den Fachkräften auch verstärkt in Anspruch genommen. Denn es ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke und Professionalität, sich in seiner beruflichen Arbeit auch Impulse von außen oder fachlichen Rat zu holen. Die Reflexion der eigenen Arbeit gehört zum Selbstverständnis pädagogischer Fachkräfte. Das lernt man während der Ausbildung als Erzieherin oder Kinderpfleger. Schließlich kann man sich jederzeit - auch in Form beispielsweise einer anonymen Beratung - an speziell geschulte Fachkräfte im Jugendamt wenden. Die Einrichtungen wissen das und machen davon Gebrauch.

Das Buch trägt den Konflikt in sich, dass viele eine Verallgemeinerung herauslesen und sich dementsprechend angegriffen und zu Unrecht angeklagt fühlen. Ein Berufsstand wird degradiert in Zeiten, in denen gerade Erzieher hoch im Kurs stehen. Es stellt sich die Frage, ob deshalb ein solches Buch über die schwarzen Schafe gar nicht erst erscheinen sollte. Wie sehen Sie das?

Aus fachlicher Sicht sage ich ganz klar, dass Nachdenken über das eigene Verhalten und Erleben noch nie geschadet hat. Das Buch rüttelt Pädagogen wie Eltern natürlich wach. Auch ich stelle mir dadurch die Frage: "Habe ich das selbst irgendwo schon mal erlebt? Vielleicht gar nicht in Schule oder Kindergarten, sondern eher im Freundes- und Bekanntenkreis? Vielleicht im Kaufhaus oder im Sportverein? Es stellt sich zwangsläufig die Frage, gehen wir Erwachsene mit den eigenen Kindern oder den Kindern, die uns anvertraut wurden, immer altersentsprechend um?

Wir im Jugendamt beobachten, dass die seelische Vernachlässigung oder eine ignorante Haltung von einzelnen Eltern massive psychische Auffälligkeiten bei den Kindern bewirken kann. Zu zahlreichen konkreten Beispielen im Buch fällt mir deshalb der Spruch ein: "Kinder sind keine kleinen Erwachsenen." Kinder (und natürlich auch Jugendliche) sind mitten in ihrer Entwicklung. Gebt ihnen Zeit, sich zu entfalten, und gebt ihnen Orientierung, denn sie brauchen Halt und Freiraum gleichermaßen. Und gebt ihnen Zeit für gemeinsames Erleben in der Familie.

Das Leben findet üblicherweise in Gemeinschaft und durch direkte zwischenmenschliche Kontakte von Person zu Person statt. Es darf sich nicht alles nur noch virtuell abspielen. Auch das ist heute ein konkreter Erziehungsauftrag unserer sozialen Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen oder Jugendtreffs... Ob das Buch erscheinen sollte oder nicht? Das ist keine Frage, das muss eine liberale und demokratisch verfasste Gesellschaft aushalten. Wir leben schließlich nicht in Nordkorea!

Gibt es in den städtischen Kindergärten Richtlinien, wie Erzieher in schwierigen Situationen zu reagieren haben - eine Art Stressmanagement?

In den eigenen Kitas der Stadt Coburg gibt es das tatsächlich. Hier werden etwa im Rahmen der Wahrnehmung der sogenannten Unternehmerpflichten regelmäßig Gespräche und schriftliche Befragungen durchgeführt, wo es beispielsweise auch um geräuschmindernde Maßnahmen in den Gruppenräumen geht. Davon profitieren natürlich auch die Kinder. Ansonsten greift unser ganz normales Konfliktmanagement, das alle Mitarbeitenden im Jugendamt und in den Einrichtungen, für die das Jugendamt Trägeraufgaben wahrnimmt, kennen.

Die Kitas in freier Trägerschaft unterliegen hier natürlich der jeweiligen Trägerverantwortung. Deswegen gibt es hier keine allgemeingültigen Empfehlungen oder Regularien, sondern meist individuelle Richtlinien der jeweiligen Träger.

Die Kultur des "Lieber-Wegschauens" kritisiert Anke Ballmann ebenso. Um des lieben Friedens Willen, greift keiner ein, wenn sich ein Kollege/in falsch verhält. Die Kinder sind klein und können die Situation daheim auch gar nicht angemessen schildern. Wie könnte Ihrer Meinung nach daran gearbeitet werden?

Es sollte in jedem Team den Grundkonsens geben, dass man sich gegenseitig Hinweise und Kritik zum eigenen Erziehungsverhalten geben darf, ja geben muss. Nur wenn ich von meinen Kollegen oder Kolleginnen darauf aufmerksam gemacht werde, dass ich mich möglicherweise nicht korrekt verhalten habe, kann ich mein Verhalten ändern. Oder zumindest "erklären". Werde ich gar nicht erst angesprochen, nimmt man mir als Fachkraft diese Chance.

Die Grundhaltung zum Kind, zum erzieherischen Auftrag und zum Selbstverständnis als Pädagoge oder Pädagogin - alles das sind klassische Elemente eines längeren Teamentwicklungsprozesses oder einer entsprechenden Team-Fortbildung. Das ist an sich "täglich Brot" der Träger wie der pädagogischen Fachkräfte.

Stichwort: Essen. Krippenkinder beim Essen fixieren, Kindergartenkinder zwingen, den Teller leer zu essen - sind das noch gängige Methoden in Coburger Kindergärten bzw. wann wurde das abgeschafft? Auch hier die Frage: Gibt es Richtlinien oder liegen die Gepflogenheiten innerhalb eines Hauses allein bei der Kita-Leitung?

Selbstverständlich sind das keine Methoden, die heutigen Qualitätsstandards auch nur ansatzweise entsprechen würden. Auch körperliche Züchtigung gehört in diese Kategorie. Ein Blick ins Gesetz schafft Klarheit: "Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig." (§ 1631 Abs. 2 BGB).

Seit November 2000 gibt es in Deutschland folglich ein gesetzliches Verbot körperlicher Bestrafungen. Darüber hinaus gibt es weitere gesetzliche Normierungen, die wichtigste ist das bundesweite Kinder- und Jugendhilfegesetz. Und speziell für den Kita-Bereich in Bayern definiert der Bayerische Bildungs- und Erziehungsplan die pädagogischen Standards.

Alle Kitas in Bayern arbeiten auf einer selbst erarbeiteten konzeptionellen Grundlage, die immer auch veröffentlicht werden muss. Aber eines ist auch ganz klar: die Qualität einer Einrichtung ist fast immer von der Person und fachlichen Eignung der Leitung abhängig. Deshalb wird das vom Bundestag verabschiedete neue Gute-Kita-Gesetz eine Freistellung der Leitung von der Gruppenarbeit und Entlastung von Verwaltungstätigkeiten bringen. Das wird durch einen staatlichen Zuschuss finanziell ermöglicht.

Namhafte Experten wie auch Leitungskräfte vor Ort haben das bereits seit vielen Jahren gefordert. Ich bin froh, dass sich hier unser Einsatz in den zuständigen Gremien auf Landesebene gelohnt hat...