Tausend Jahre Literatur übermittelten Bilder einer mythischen Natur und lassen uns heute erst Recht erschauern. Von der Edda bis zu Halldór Laxness und den heutigen Fantasy-Romanen werden wir herausgefordert. Dazu Musik von Sigur Rós.
Krasse Konfrontation Island: An diesem eisklirrenden und zugleich feuerspuckenden Nordland spürt der gemeine Mitteleuropäer: Wie ihn dieser Planet behandeln könnte. Wie ihn unsere Erde prägen und zwingen könnte, wenn sie es nicht so sanft mit uns meinte in dem doch weitgehend lieblichen Oberfranken. Wie sehr wir wahrscheinlich nur sehr kurzzeitig geduldete Gäste auf einem wunderschönen Planeten in einem universalen System sind, für dessen Verständnis uns Geist und Wort versagen. Wir werden - wie es die Psychologie oder auch die Philosophie sagen würde - zurückgeworfen auf uns selbst (wer oder was oder wie viele das auch sein mögen).
Immer mehr reisen von Coburg oder Bamberg oder Kronach aus auf diese herbe Insel; das ist heute einfach, allenfalls relativ teuer. Doch es reichen schon die Bilder Islands, damit eisige existenzielle, dabei aber aus unserem ameisenhaften Leben erhebende Gedanken nach uns greifen wie die langen Finger der Eisriesen aus der nordischen Sagenwelt. Die floss von der Edda aus in zahllose Legenden und Geschichten, über 1000 Jahre erzählt und erzählt und weiterentwickelt.
Sehr alte und neue Geschichten
Oder begegneten uns die Eisriesen in einem der vielen heutigen Fantasy-Filme? Die sind doch nichts anderes, als die ungebrochen weiter lebende Mythen- und Sagenwelt, umgesetzt mit den fantastischen heutigen Möglichkeiten der Technik. (Und zu Unrecht belächelt von Kulturhütern der eingeschränkten Art.) "Der Herr der Ringe" und viele Nachfolger sind zu einem sehr großen Teil ästhetisch gespeist von den Gletschern und Vulkanen Islands. Vor den Filmen aber waren die Geschichten und Beschreibungen dieses Landes im Nordatlantik da, in der Literatur wie in gemalten oder fotografischen Abbildungen.
Alte Geschichten also: Vor allem die Snorra-Edda, verfasst von Snorri Sturluson um 1220, und die im 13. und 14. Jahrhundert niedergeschriebenen Isländersagas transportieren nicht einfach nur wild abenteuerliche Erzählungen. Sie bringen eine eigene Konfrontation mit den Grundfragen der Menschheit, in einer kulturell unverbrämten, direkten, schonungslosen, dabei gedanklich und sprachlich archaisch klar gemeißelten Form.
Auf dieser Grundlage hat Island bis heute eine ungemein reiche Literatur, was uns lange wurscht war, vor allem auch, weil uns die Nazis mit ihrer Okkupation der nordischen Sagenwelt einen anhaltenden Schrecken und Scheu eingejagt hatten. 1955 erhielt Halldór Laxness den Literatur-Nobelpreis vor allem dafür, dass er in eigenwilliger, doch sehr authentischer und wirkungsvoller Weise die historische isländische Literatur mit einer modernen Erfassung der Welt verband.
In Deutschland rückte der Steidl Verlag in den 90er Jahren das Gesamtwerk von Laxness durch eine Neuübersetzung in ein jetzt wieder offeneres Bewusstsein für dieses befremdliche Land. 2011 war die Insel dann Gastland auf der Frankfurter Buchmesse. Unsere Aufmerksamkeit für die schaurige Insel war nicht zuletzt auch dadurch erhitzt worden, dass ein Jahr zuvor der Eyjafjallajökull ausgebrochen war und den Flugverkehr in Nord- und Mitteleuropa zeitweise fast gänzlich zum Erliegen gebracht hatte. Im Mai 2011 beugte sich dann auch noch der Grímsvötn drohend über Europa.
Abstruses am Gletscher
Spätestens jetzt stiegen wir mit Laxness in die isländischen Berge: Sein Roman "Am Gletscher" ließ uns in seinem eisigen Hohn Sehen und Hören vergehen, so skurril, so abgründig sind die Ereignisse darin: Pfarrer Sira Jon Primus am Snæfellsjökull verweigert seinen Dienst seit 20 Jahren, ist als Handwerker und Tierzüchter aber ungemein nützlich. Der Vertreter des Bischofs, kurz "Vebi" genannt, gerät bei seiner Recherche in abstruse Zwischenfälle: Die geheimnisvoll verehrte Holzkiste vom Gletscher enthält einen gefrorenen Lachs, der schnell von den Vögeln gefressen wird. Die verschollene Frau des Pfarrers, die eine Karriere als Bordellhaus-Leiterin in Buenos Aires und als Handschuh strickerin in Peru hinter sich hat, taucht wieder auf und wird dem Vebi als Frau angeboten. Ein verstorbener Professor müsste begraben werden, doch der Pfarrer wird zur Reparatur eines Schnellgefrierhauses gerufen. Der Vebi flieht.
Das Absurde haust auch in vielen anderen, älteren und neueren Romanen, keineswegs spaßig, sondern nah an der Grausamkeit, wie auch die isländische Geschichte zwischen der Entwicklung zu einer eigenen Form von oligarchischer Gemeinschaftsregierung im Al thing - demokratisch wäre zu viel gesagt - und grausamer Niederwerfung in den nordischen Machtkämpfen verlief.
Grausame Heldensagas
Einar Kárason hat mit "Feindesland" (2004 bei btb) einen harten Roman über zwei rivalisierende Clans im 13. Jahrhundert geschrieben. "Die glücklichen Krieger", wiederum von Laxness, muss man in ihrer satirischen Gnadenlosigkeit aushalten: Mit den Schwurbrüdern Thorgeir und Thormod erleiden wir Blutrache, Eroberungsfeldzüge, Mordin trigen und Machtpolitik im 11. Jahrhundert. Das erzählen die Heldensagas tatsächlich, sagt Laxness.
Im Grunde geht es stets da rum, wie aus der eisigen Feindlichkeit des Daseins Funken an Menschlichkeit geschlagen werden können. Vielleicht verbinden sich diese Funken über die Jahrhunderte hinweg zu einem Feuer, das die dem Menschen dicht unter der Haut schwärende Grausamkeit wegbrennt.
Womit wir bei der heutigen Fantasy-Literatur wären, die, wenn sie sich aus der nordischen Sagenwelt nährt und vor allem, wenn sie dabei rückgebunden bleibt in die tatsächlichen historischen Zusammenhänge, zur grausameren, hintergründigeren ihrer Art zählt. Da sei nur der vielfach ausgezeichnete kanadische Autor Guy Gavriel Kay (geboren 1954) genannt.
Sigur Rós: Aus anderen Sphären
Kehren wir zu unserem Ausgangsgedanken zurück: Die ungeheure Naturgewalt Islands schlägt durch bis heute, nicht nur in der Kultur des eigenen Landes, sondern in ihrer Bildermacht bis zu uns. Sie vermag all den lärmigen, falschen Klimbim unserer schönen neuen Konsum- und Medienwelt beiseite zu fegen. So dass wir auf Klarheit und Schönheit blicken.
Übrigens: Kennen Sie Sigur Rós? Nach so viel Bildermacht und Wortgewalt in diesen Sagas und Romanen brauchen wir dringend Klänge. Sigur Rós heißt eine 1994 gegründete isländische Band. Der auf einem Auge blinde Jónsi Birgisson, der im Falsett singt, oft auch in reiner Fantasiesprache, und der seine Gitarre mit einem Cellobogen streicht, war noch nicht 20, als er mit noch Jüngeren Werke hervorbrachte, von denen man sich bis heute fragt: Woher kommen die, und wie kommen damals so junge Menschen dazu, so etwas zu finden? Bis heute sphärisch, melancholisch, elektronisch experimentell, mit Orchester, mit dem Streichquartett Amiina zusammen, versetzen sie uns - an den Fuß der Gletscher Islands.
Literatur-Hinweise
Halldór Laxness: Am Gletscher. Roman. Steidl Verlag Göttingen, 2011. 187 Seiten, 9,90 Euro.
Halldór Laxness: Die glücklichen Krieger. Roman. (Originaltitel: Gerpla). Steidl Verlag Göttingen, 319 Seiten, 11,90 Euro.
Einar Kárason: Feindesland. Roman. btb Verlag München, 256 Seiten, 9,99 Euro.
Guy Gavriel Kay: Die Fürsten des Nordens. Roman. Piper Verlag München 2007. 551 Seiten, im Handel nur noch in Gebrauchtversionen erhältlich.
Sigur Rós: Ágætis Byrjun (übersetzt soviel wie "Ein recht guter Start"), 1999 in Island erstmals erschienen, 71 Minuten 53 Sekunden.