Immer mehr Jugendliche landen mit Alkoholvergiftung im Krankenhaus. Die Zahlen steigen seit Jahren konstant an. Die Ursachen und Gesichter hinter den Zahlen sind aber weitaus vielfältiger und weniger eindeutig.
Das Telefon klingelt. Es ist Wochenende und ungefähr 1 Uhr nachts. Siegfried Simon geht ans Telefon und ist kurz danach auf dem Weg in eine Klinik irgendwo in den Landkreisen Coburg, Kronach, Lichtenfels und Kulmbach. Simon ist selbstständiger Sozialarbeiter und seit 2009 Mitarbeiter beim "HaLT"-Projekt, das gegen den Alkoholmissbrauch von Jugendlichen arbeitet. Er wird angerufen wenn Jugendliche mit zu viel Alkohol im Krankenhaus landen. "Wenn der Jugendliche medizinisch stabil und wieder ansprechbar ist, dann bin ich da und frage nach, wie es dazu gekommen ist und stelle das HaLT-Projekt vor", sagt Simon.
Eine häufige Antwort auf das Wie: "Keine Ahnung, wir haben so ein Trinkspiel gemacht." Simon ist der reaktive Teil des HaLT-Projektes. Tanja Setzer vom Landkreis gibt Vorträge in Schulen und führt andere präventive Maßnahmen durch, damit Simon nicht zum Einsatz kommen muss.
Wenn der 58-jährige Sozialarbeiter doch ran muss, dann ist in Statistiken oft von der Hauptdiagnose "akuter Rausch" die Rede.
Die Zahlen für Bayern sind dramatisch. Von 2000 bis 2011 ist bei den unter 20-Jährigen ein Anstieg von 210 Prozent zu verzeichnen. In Stadt und Landkreis Coburg haben sich die stationären Behandlungen, laut Amt für Gesundheit, nach übermäßigem Alkoholkonsum von 2009 mit 16 auf 47 Jugendliche im vergangenen Jahr gesteigert.
Aber alleine aufgrund der nackten Zahlen zu schimpfen oder sich über die das Verhalten Jugendlicher aufzuregen, ist nicht zielführend. Denn laut Simon handelt es sich bei den Betroffenen um "einfach nette Jugendliche". Dem Anstieg der Behandlungen in Krankenhäusern kann Simon auch etwas positives abgewinnen. "Es ist besser, wenn Jugendliche in solchen Zuständen im Krankenhaus behandelt werden.
Früher wurden viele in der Schubkarre oder von der Polizei nach Hause gebracht, was gefährlicher ist", sagt Simon.
Kinder auf der Intensivstation Über diese Zustände weiß Peter Dahlem nur zu gut Bescheid. Er ist Leiter der Kinder und Jugendklinik in Coburg und behandelt Betroffene aus allen umliegenden Landkreisen. "Die Behandlung besteht in der Überwachung von Vitalfunktionen und einer unterstützende Behandlung bis der Alkohol abgebaut ist", erklärt Dahlem. Laut der Aussage des Mediziners kommt bei Kindern eine Überwachung auf der Intensivstation häufiger vor.
Siegfried Simon muss den Jugendlichen oft bei der Orientierung im Krankenbett helfen. Im Brückengespräch, so heißt der erste Kontakt, hängen die 12- bis 17-Jährigen oft am Tropf und haben sogar Windeln um.
Trotz dieser Erfahrungen rät Simon von der Verteufelung des Alkohols ab. "Ein Verbot bringt nichts. Man muss den Kids einen vernünftigen Umgang mit der Droge Alkohol näherbringen, damit sie besser einschätzen können, wo ihre Grenzen liegen", sagt Simon.
Vom Begriff Komasaufen hält er auch nicht viel. "Es sind eher Zustände, welche die Jugendlichen nicht mehr kontrollieren können." Aber wo sind die Ursachen für den hemmungslosen Umgang mit Alkohol? Simon sieht verschiedene Auslöse: "Früher hat man mal ein Bier zur Jugendweihe getrunken, aber heute fangen viele gleich mit Wodka und Energydrinks an." Obwohl die sogenannten Alkopops, Mischgetränke aus Hochprozentigem und süßer Limonade, schon längst vom Markt verschwunden sind, sieht Simon bei diesen Getränken eine Ursache für den folgenschweren Missbrauch. "Die Kids sind ja nicht blöd.
Die mischen sich das Zeug einfach selbst", sagt Simon.
Aber er sieht noch eine weitere Gefahr: Die Mischung von Alkohol mit anderen Substanzen, wie den sogenannten legalen Kräutermischungen, zum Beispiel "Spice". Diese können problemlos auf gängigen Internetseiten bestellt werden. Zusammensetzung und Inhaltsstoffe können im Krankenhaus nur schwer nachgewiesen werden. "Generell potenziert die Kombination von verschiedenen Stoffen die Gesundheitsgefährdung", sagt der Mediziner Dahlem.
Wenn es gut läuft, kommt es gleich im Krankenhaus zum Elterngespräch, die zweite Phase des HaLT-Projektes. "Oft sind die Eltern total hilflos, haben selbst Probleme mit Alkohol oder fürchten einen Imageverlust", sagt Simon. Genauso vielfältig, wie die Reaktionen der Eltern sind auch die sozialen Milieus aus denen die Familien kommen.
Simon hat die Erfahrung gemacht, dass viele Gymnasiasten unter den Jugendlichen sind oder solche, die aus einem "über behüteten Elternhaus" kommen. Die andere Seite sind Kinder, die vernachlässigt werden oder deren Eltern selbst mit Alkoholproblemen leben. "Es sind meistens Kids, die aus extremen Elternhäusern, sowohl gesellschaftlich nach oben als auch nach unten, kommen", ergänzt Simon.
Meistens ist es ein "Ausrutscher" Hauptsächlich setzen sich "seine Kids", wie er sie nennt, aus drei Gruppen zusammen: Erstens die "Hasardeure", dass sind Jugendliche, die mit ihrem Trinkverhalten zeigen wollen was sie drauf haben, um anderen zu imponieren. Zweitens: Ängstliche Jugendliche mit wenig Selbstwertgefühl, die sich Mut antrinken.
Die dritte Gruppe, und auch die größte, sind die, bei denen es nur einmal aus ganz verschiedenen Gründen vorkommt, dass sie beim Alkohol über die Stränge schlagen.
"Ist die Nacht im Krankenhaus überstanden, dann kommen die üblichen Antworten, wie ,Ich trinke nie wieder'. Da sag ich immer, legt die Latte mal nicht so hoch", sagt Simon dessen Arbeit nicht am Krankenbett endet.
Alternativen zum Saufen Im dritten Teil des HaLT-Projekts erfolgt die Risikobewertung. An sechs festen Terminen im Jahr geht Simon mit den Jugendlichen klettern oder mit dem Kanu auf den Main. "Wir beobachten die Kids, um das Risiko einzuschätzen, wie anfällig sie für Alkohol sind", sagt Simon. Die Eltern haben ein Recht auf eine Rückmeldung, "aber nicht alle machen davon gebrauch".
Je nach dem, wie die Risikobewertung ausfällt, gibt Simon den Eltern einen Rat.
"Ich kann die Eltern an ihre Aufsichtspflicht erinnern oder, dass sie ihre Kinder mal ein wenig von der Leine lassen sollen."
Die wenigsten Jugendlichen, die das HaLT-Projekt durchlaufen haben, sieht Simon wieder. "Es gibt wenig Wiederholungstäter." Aber mit vielen ist er über Facebook befreundet und schreitet auch ein, wenn sich "seine Kids" zum Vorglühen verabreden. "Wenn ich euch morgen im Krankenhaus treffe, dann gibt's Ärger", schreibt Simon dann.
Laut Simon ist es kein Problem, den Alkohol zu bekommen: "Da gibt es viele Möglichkeiten. Ältere Freunde oder bei jungen Mädchen oft der volljährige Partner. Auch in einigen Kneipen sind die Kontrollen zu lasch."
Zwei Ratschläge hat der Sozialarbeiter parat: "Spart euch das Vorglühen und trinkt vor dem Feiern eine Kanne Tee." Den Alkohol oder die Jugendlichen, mit denen er arbeitet zu verurteilen lehnt er strikt ab. "Das sind keine Randgruppen, sondern ganz nette Kids. Da Alkohol gesellschaftlich akzeptiert ist, muss der Umgang mit ihm erlernt werden."