Frühstücken mit dem Papst, zwischendurch kritische Blicke auf sein Coburg: Rastlos und forschend ist Gert Melville in der ganzen Welt unterwegs. Heute wird der Historiker und Seniorprofessor 70.
Eigentlich hat Gert Melville gerade gar keine Zeit: Er muss die englische Übersetzung seines Klöster-Buchs überarbeiten, nach Paris zu einer Konferenz fliegen, und der Beck-Verlag hat ein Buch über die Benediktiner bei ihm bestellt. Dabei würde der Seniorprofessor der Technischen Universität Dresden lieber seiner neuesten Forschungsfrage nachgehen: Kannte das Mittelalter schon förmliche Verfahren - also Regeln, wie zum Beispiel eine Eingabe bei der Obrigkeit zu bearbeiten ist oder wie eine Sitzung abzulaufen hat?
Das klingt nach Professor und Elfenbeinturm, doch für Melville ist es eine der Fragen, die uns verstehen helfen können, wie unsere Gesellschaft sich entwickelt hat. "Die Soziologie geht davon aus, dass sich solche Verfahren erst im 15. und 16. Jahrhundert herausgebildet haben", sagt er. Ein Beispiel: Die Prozessordnung für Verfahren gegen vermeintliche Hexen.
Politisch engagiert Eine hat zum Beispiel der Coburger Herzog Johann Casimir (1564 - 1633) erlassen, und mit diesem Coburger Renaissancefürsten hat sich Melville gerade in einer Vortragsreihe intensiv auseinander gesetzt. Eines seiner vielen Nebenbei-Projekte, so wie die regelmäßigen kulturanthropologischen Tagungen in Buenos Aires, die er mit dem Präsidenten der dortigen Universität organisiert, seine Mitarbeit im Wissenschaftsrat des Campus Condorcet in Paris oder im päpstlichen Rat für Geschichtswissenschaften in Rom. "Wenn ich dort bin, wohne ich im gleichen Haus wie der Papst, da seh' ich ihn zum Frühstück, Mittagessen, Abendessen."
Aber zurück zu den formellen Verfahren. "Mit Geschäftsordnungen und Verfahrensregeln kann man herrschen.
Unser Alt-OB Norbert Kastner war ein Meister darin." Melville ist ein Kenner des Mittelalters, der Klöster, der Orden - aber er weiß auch, was in Coburg los ist, engagiert sich nach wie vor bei den Christlich-sozialen Bürgern, die er nach der Spaltung der CSU-Stadtratsfraktion im Jahr 2007 mit gründen half.
Gab es schon Verfahrensregeln? Lang ist das her. Aber was sind schon sieben Jahre für einen Historiker? Für Melville offenbar nix. Den Ruhestand hat er ausgelassen, leitet nach wie vor seine Forschungsstelle für vergleichende Ordensgeschichte, die er 2005 an der Katholischen Universität Eichstätt gegründet und 2010 an die TU Dresden transferiert hat, weil da (in seinen eigenen Forschungsbereichen) die eigentlichen Wurzeln lagen. 13 Leute, ein Etat von einer halben Million Euro, eine wissenschaftliche Reihe mit schon über 60 Büchern, zählt er stolz auf.
"Jetzt bin ich ja frei von den normalen Anforderungen einer Professur."
Die Orden und Klöster als Wegbereiter der gesellschaftlichen Entwicklung interessieren ihn schon lange. Nun also die Frage nach den Verfahrensregeln. Eigentlich klingt es ganz logisch, dass ein Kloster als Wirtschaftsbetrieb auch eine Buchführung hatte, dass die hierarchisch aufgebauten Orden Protokolle darüber anfertigten, was die jährlichen Visitationen ergeben hatten.
Weil Orden aber eine religiöse Gemeinschaft darstellen, in der die Mitglieder mitreden, muss es auch dafür ein festgelegtes Verfahren geben. "Die Dominikaner waren die Meister", sagt er: Neue Gesetze für den Orden mussten drei Lesungen passieren - mindestens eine vor den Vertretern des Generalkapitels, eine vor den gewählten Vertretern der Ordensprovinzen.
Vor welcher Kammer die dritte und entscheidende Lesung stattfand, hing davon ab, wo die erste war - auf jede Tagung des Generalkapitels folgten zwei der Domherren. "Da konnten solche Verfahren Jahre dauern."
Abschied vom Stadtmuseum Lange Jahre dauerte auch das Verfahren um ein Coburger Stadtmuseum. Melville hatte zuletzt den Auftrag, ein Konzept dafür zu entwickeln. Doch nun hat die Stadt das Haus verkauft; für ein Museum ist derzeit kein Geld da. "Das ist für mich erledigt", sagt Melville denn auch. Bestrebungen, mit einer (gesponsorten) Dauerausstellung wenigstens die Coburger Industriegeschichte darzustellen, sieht er mit Skepsis. "Wir brauchen ein Museum, das die ganze Geschichte widerspiegelt, um tragfähig zu sein."
Außerdem ist er ja noch Vorsitzender der Historischen Gesellschaft Coburg. Wie lange noch? "Das lasse ich auf mich zukommen.
Wenn man aufhören will, braucht man ja einen Nachfolger." Das gilt ebenso für sein Dresdner Institut. Zumindest für die Historische Gesellschaft hätte er schon eine Idee, wer seinen Posten übernehmen könnte. Mehr leisten als bisher könne er dort ohnehin nicht. Schon die Casimir-Reihe sei ein Kraftakt gewesen. Mehr als einen halben Monat ist er kaum in Coburg.
In Rom muss er eine Tagung über das 4. Laterankonzil vorbereiten, dann soll es eine darüber geben, wie die katholische Kirche seinerzeit auf Luther und die von ihm angeprangerten Missstände reagierte. Die Vestestadt ist nur ein Punkt auf seiner Arbeits-Weltkarte. "Coburg ist schon mein Zuhause", beteuert er, "aber man hat einen anderen Blick auf Coburg, als wenn man immer hier lebt."
"Keine Grenzen gesetzt" Über den Horizont blickt er auch bei seiner Ordensforschung: Nicht nur die christlichen, auch die
orthodoxen, buddhistischen, hinduistischen werden in der Graduiertenschule seines Instituts untersucht und verglichen. "So einen interkulturellen Vergleich der Klöster gibt es sonst nirgends; das machen wir seit knapp einem Jahr."
Wie lange er so weitermachen will? "Ich hab mir keine Grenzen gesetzt." Seit zwei Jahren geht er wieder Skifahren, nachdem ihn zwei Unfälle zu langer Pause gezwungen hatten. "Mein Sohn kommt mit, dem hab' ich als Kind das Skifahren beigebracht." Inzwischen ist der Sohn Skilehrer und angehender Physiotherapeut. "Man muss froh sein, wenn es einem einigermaßen gut geht." Aufhören wolle er dann, wenn er seine Mitarbeiter nicht mehr fordern könne mit seiner Neugier und seinen neuen Ideen, sagt er. "Alt werden kann ich immer noch."
Gert Melville wird heute 70.
Biographie Geboren am 27.
November 1944 in Wartenberg (Oberbayern). 1965 bis 1971 Studium Jura, Geschichte, Germanistik und Philosophie an der Ludwig-Maximilian-Universität München. Habilitation 1983. 1985 bis 1991 Lehrstuhlvertretungen in Tübingen, Frankfurt und Passau; Gastprofessur an der Sorbonne sowie der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris. 1991 bis 1994 Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Münster, seither an der TU Dresden. 1997 Gründung des Sonderforschungsbereichs "Institutionalität und Geschichtlichkeit" (Leitung bis Ende 2008). Direktor der Forschungsstelle für vergleichende Ordensgeschichte an der TU Dresden, seit 2010 dort auch Seniorprofessor.
Persönlich Melville ist verheiratet und hat einen Sohn. Seit 1996 lebt er mit seiner Familie in Coburg.
Hier engagiert er sich als Vorsitzender der Historischen Gesellschaft und organisierte in diesem Jahr eine Vortragsreihe zum 450. Geburtsjahr von Coburgs Herzog Johann Casimir.
Feiern zum 70. Geburtstag Die Forschungsstelle für vergleichende Ordensgeschichte richtet am Freitag und Samstag ein Festsymposium für ihren Direktor in Dresden aus. Der Titel "Kreativität und Gestaltungskraft" umreißt zwar die Thematik der Vorträge, passt aber auch gut zum Geehrten selbst. Die Vorträge halten Kollegen aus Münster, Roskilde, Buenos Aires, Princeton, Zürich und Dresden.