Die Waldorfpädagogik wird in Coburg gelebt

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Die Drittklässler der Rudolf Steiner Schule eggen das Feld, das sie gemeinsam bestellen werden. privat
Die Drittklässler der Rudolf Steiner Schule  eggen das Feld, das sie gemeinsam bestellen werden. privat
Theateraufführungen und Bühnenerfahrung, wie hier bei Harry Potter, sind fester Bestandteil des Waldorfunterrichts.CT-Archiv
Theateraufführungen und Bühnenerfahrung, wie hier bei Harry Potter, sind fester Bestandteil des Waldorfunterrichts.CT-Archiv
 
Rudolf Steiner dpa
Rudolf Steiner  dpa
 

Wie ganzheitliches Lernen in der Rudolf Steiner Schule funktioniert und wo eine Kinder ein Feld bestellen und ihre Lehrerin Popcorn für ihre Schüler macht.

Der Biss ins Brötchen am Ende ist sehr wichtig. Voller Stolz kauen die Kinder das braun gebackene Roggenlaibchen - wohl wissend, dass sie es selbst waren, die es zu dem gemacht haben, was es ist: ein vollwertiges, regionales und biologisches Lebensmittel.

Wenn Kirsten Wagner über "ihre" Drittklässler spricht, wird es der ambitionierten Waldorfpädagogin warm ums Herz. Wir marschieren über den Innenhof der Callenberg Farm, auf dem Weg zum angesäten Feld, das schneegezuckert da liegt. "Im Sommer wird der Roggen von den Kindern geerntet, im Herbst gedroschen und in kleinen Kaffeemühlen gemahlen. Aus dem Mehl wird dann das Brötchen gebacken. Es ist wichtig mit den Jahreszeiten zu leben", betont die Pädagogin.

Drittklässler im Umbruch

"Um das neunte Lebensjahr durchleben die Kinder eine neue Entwicklungsphase. Sie entfremden sich von der Welt, beobachten genauer, fühlen sich verunsichert, manchmal einsam, haben Ängste", erläutert Kirsten Wagner. Die Waldorfschule , in der ehemaligen Musterfarm von Herzog Ernst beheimatet, setzt deshalb das praktische Arbeiten in der dritten Klasse auf den Lehrplan. "Wir schlagen eine Brücke zu der Welt, mit der sich die Kinder wieder verbinden, in dem sie kräftig zupacken."

An der Rudolf Steiner Schule Coburg ist das unter anderem Feldarbeit. Zwei Stücke Land hat die Schule gepachtet und bestellt. Kirsten Wagner erinnert sich noch gut, wie Leni andächtig über das Feld ging und die Roggenkörner darauf warf.

Denkt sie an das zweite Feld, kommt ihr Elias in den Sinn. Er entdeckte erstaunt den ersten Bewohner in dem Steinhaufen, den die Kinder aus den gesammelten Feldsteinen gebaut hatten: Die Spinne wurde zur Attraktion. "Lucius war es wichtig, eine Igelhöhle unten in den Haufen hinein zubauen", erzählt sie.

Genannt wird das die Ackerbauepoche, in der die Kinder Jahreszeiten, Wachstumsprozesse und den Wert der eigenen Hände Arbeit schätzen lernen. So zog beispielsweise Johann mit den anderen Kindern zusammen die Egge übers Feld.

Einmal pro Woche schauen die Kinder mit der Lehrerin auf die Felder. Es wird Tagebuch geführt und die Schüler schreiben kleine Aufsätze darüber. Den Drittklässlern begreifbar machen, was das alles mit ihnen selbst zu tun hat, darum geht es. "Beim Thema Getreide serviere ich schon auch mal selbst gemachtes Popcorn", lacht Kirsten Wagner.

Ehrfurcht vor Könnern

In Epochen zu unterrichten, ist eine der Besonderheiten von Waldorfschulen. Drei bis vier Wochen steht Rechnen auf dem Stundenplan, dann kommt der Ackerbau oder auch die Handwerkerepoche. "Die Ehrfurcht vor den Könnern vermitteln", das ist es, was den Schülern vermittelt werden soll. Auf die "Meister" gucken - ob Uhrmacher, Schmied oder Schornsteinfeger - und gestandene Persönlichkeiten kennenlernen, darum geht's. "Wir stellen Bilder vor die innere Seele, die später abgerufen werden", erklärt das Kirsten Wagner mit Waldorfworten.

Ab der 6. Klasse haben die Schüler auch Handwerksunterricht. Sie bauen ihre Kulissen für Theateraufführungen selbst, Behausungen für die Tiere draußen, töpfern, schmieden und sägen.

Gestrickt wird übrigens ab der 1. Klasse. Mit den Händen tätig zu sein, war von Anfang Anliegen von Rudolf Steiner. Seine Philosophie baut auf Ganzheitlichkeit, die bis heute das Unterrichten prägt.

"Jungs kommt da sehr entgegen", weiß die erfahrene Pädagogin. Ihre Fähigkeiten zu stärken, sei wichtig. Etwas provokant formuliert sie: "Das klassische Schulsystem ist eher für Mädchen gemacht." Dabei spielt sie auf das Malen, Lesen und Schreiben an. Und Studien geben ihr recht: Verlierer des Bildungssystems sind die Jungs - zumindest, wenn man die Abschlüsse vergleicht.

Anders als in klassischen bayerischen Schulen sind Waldorfschüler mindestens bis zur 9. Klasse zusammen. "Es gibt Kinder, die sich vom Waldorfkindergarten bis zum Abitur kennen." Diese langjährige Gemeinschaft sei es, die den großen sozialen Wert der Waldorfschulen ausmache. Auch die enge persönliche Bindung an den Lehrer wirke sich positiv aus, meint Wagner, der man die von ihr zitierte "Hingabe" an den Schüler anmerkt. Den stets wohlwollenden Blick auf das Kind oder den Jugendlichen zu behalten, sei wichtig - auch, wenn Kinder sich in der Schule schwer tun.

Keine Angst vor Klischees

Wenn Eltern ihr Kind nur dann an der Waldorfschule anmelden, weil es woanders nicht zurecht kommt oder Schwierigkeiten macht, werde zunächst geschaut, ob die Klassengemeinschaft das tragen kann. "Grundsätzlich versuche ich allen Kindern die Aufnahme zu ermöglichen." Aber natürlich gebe es auch Fälle, in denen das Verbleiben auf der Waldorfschule nicht sinnvoll ist. Manche Kinder bräuchten andere Unterstützung oder Förderung, die die Waldorfschule nicht leisten kann. Das seien Ausnahmen, aber die gebe es schon.

Vorurteilen und Klischees begegne die Schule mit einem Augenzwinkern. Dass die Kinder durch den Eurythmie-Unterricht ihren Namen tanzen können und deshalb in der Gesellschaft oft belächelt werden, sieht Kirsten Wagner gelassen. "Es ist doch nett. Die Schüler haben damit auch kein Problem. Eurythmie ist ein wunderbares Fach, um seinen Körper zu spüren."

Der Kindergarten

Kinder bewusst vorbereiten

Der dreigruppige Waldorfkindergarten ist auf dem Callenberg in unmittelbarer Nähe zur Waldorfschule angesiedelt, direkt daneben ist das Krippengebäude.

Waldorfpädagogik folgt dem Grundsatz, dass die kognitiven und intellektuellen Fähigkeiten des Schulkindes über konkrete Tätigkeiten des Kleinkindes veranlagt werden. Dem Lernen mit dem Kopf geht das Lernen mit Herz, Hand und Fuß voraus. Wurde dem Kind ausreichend Gelegenheit gegeben, sich durch unmittelbar körperliche, sensorische und motorische Tätigkeiten mit den Gegenständen, Vorgängen und Tatsachen seiner Lebensumwelt vertraut zu machen und sich mit ihnen auch in seiner Gefühlssphäre innig zu verbinden, bildet das die Basis für ein künftiges Gestalten der Welt. ws

Wie alles begann: Die Geschichte der Waldorfschule

Der Anfang Im Jahr 1919 wurde die erste Waldorfschule gegründet. Dass sich das Modell der Waldorfschulen bewährt hat, zeigt sich an deren großer Beliebtheit. Während es 1980 noch 69 Waldorfschule in Deutschland gab, so waren es im Jahr 2000 schon 180 Schule. 2017 ist die Anzahl bereits auf 226 Schulen angestiegen.

Erfolgsmodell Auch weltweit setzte sich die Waldorfpädagogik sehr schnell durch. So wurden bereits 1921 in der Schweiz und 1928 in New York Waldorfschulen gegründet. Heute gibt es über 1100 Waldorfschulen und knapp 2000 Waldorfkindergärten in rund 80 Ländern.

Rudolf Steiner Schule Coburg Im Jahr 1988 bildete sich eine Gruppe von Gründungspersönlichkeiten, um in Coburg eine Waldorfschule zu gründen - die Rudolf Steiner Schule Coburg. Im Schuljahr 1988/89 begann der Schulbetrieb mit vier Klassen. In den Folgejahren vergrößerte sich die Schule jedes Jahr um eine Klasse, bis sie im Schuljahr 1997/98 mit 13 Klassen die volle Größe erreichte. Seit 1997 werden durchgängig die staatlichen Abschlüsse (Realschulabschluss und Abitur) angeboten.

Ausstellung Mit der Ausstellung "Eine Pädagogik zum Großwerden" werden die Feierlichkeiten zum Jubiläumsjahr 100 Jahre Waldorfpädagogik eröffnet. Die Rudolf Steiner Schule und der Waldorfkindergarten Coburg zeigen in den Räumen der Stadtbücherei künstlerisch-praktische Arbeiten der Heranwachsenden von der Kinderkrippe bis zur 12. Klasse.