Kluger Mann, so ist es, die Angstkreisläufe sind in älteren Gehirnteilen wie zum Beispiel dem Mandelkern (Amygdala) verortet und brauchen länger, um sich wieder neu einzupendeln. Und Gewohnheit ist ein Tyrann, heißt es. Viele kennen die Geschichte von dem jahrelang angeketteten Elefanten, der, nachdem er von seinen Ketten befreit wurde, trotzdem nicht aus dem Bereich hinausging, den die Ketten ihm erlaubt hatten. Seine innere, mentale Landkarte entspricht genau der Länge der Kette.
Gibt es zu diesem Phänomen oder zu vergleichbaren Phänomenen bereits Studien? Wenn ja: was ließe sich daraus ableiten?
Risikoverhalten ist sehr gut untersucht und der israelisch-US-amerikanischer Psychologe und Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Daniel Kahn eman hat dazu ein sehr erhellendes Buch mit dem Titel "Schnelles Denken, langsames Denken" geschrieben, das auch die Grundlage der Verhaltensökonomik darstellt, die sogenannte Neue Erwartungstheorie. Die mittlerweile neurobiologisch gut bestätigte Grundaussage ist: Menschen sind eher risikoaversiv eingestellt und ihnen ist es wichtiger, Verluste zu vermeiden. Insofern fragen sich die Leute in der konkreten Situation "Ist mir der Abend heute das Risiko und den ganzen Aufwand wert?"
Könnte dieses Phänomen auch Thema für eine von der Hochschule Coburg initiierte Studie sein?
Im Prinzip ja, wir müssten halt mit den lokalen Veranstaltern sprechen!
Ganz praktisch gefragt: Was kann man grundsätzlich tun, um aus dieser negativen Spirale auszubrechen?
Ja, bewusst, reflektiert und achtsam seine Wahrnehmungen reflektieren und sich wieder sozial "eingrooven"! Wenn schon als "Starter" kein ganzer Abend mit 500 Leuten im Konzert, dann vielleicht erstmal eine Pizza abholen und nebenher einen Espresso trinken. Dann das Ganze gezielt und systematisch ausdehnen, zum Beispiel durch einen Restaurantbesuch mit dem Partner oder Familie, dann mit Freunden und schließlich in einer größeren Gruppe, bis hin zum Konzert. Ganz wichtig, es muss nicht das Ziel sein, wieder zum Vor-Corona-Verhalten zurückzukommen, wenn man feststellt, dass man eigentlich gut mit dem neuen Verhalten zurechtkommt.
Was könnten eventuell auch Veranstalter tun, um diese Verhaltensweise aufzubrechen? Deutlicher kommunizieren, wie konkret die Saalbelegung aussehen wird? Die Zahl der Sitzplätze bei den Veranstaltungen nach und nach erhöhen und nicht sofort auf vollständige Auslastung setzen?
Das ist sicher eine Möglichkeit, vielleicht könnte man auch mit einem Stufensystem anfangen, zum Beispiel von eins bis vier in Abhängigkeit von der sozialen Kontaktnähe und das vorab kommunizieren, so dass jeder seinem Level entsprechend teilnehmen kann. Auf der anderen Seite führt dies dazu, dass noch mehr Wahrnehmung auf dem Corona-Problem liegt, in der Psychologie heißt das "Salienz", und dass damit natürlich die Unsicherheitsgefühle wieder befeuert werden. Das ist keine leichte Situation, die uns aber zeigt, dass ein Zurück zu "normal" eben nicht so leicht möglich ist wie das Ein- oder Ausschalten eines Lichtschalters.
Die Fragen stellte Jochen Berger
Zur Person
Der Psychologe Niko Kohls beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren als Wissenschaftler und Berater schwerpunktmäßig mit den Zusammenhängen von Achtsamkeit, Werten sowie Gesundheit, Lebensqualität und Leistungsfähigkeit. Seit 2013 ist er an der Hochschule Coburg als Professor für Gesundheitswissenschaften im Bereich Integrative Gesundheitsförderung tätig. Im selben Jahr wurde Niko Kohls von dem Netzwerk "Weimarer Visionen" mit dem "Amalia-Preis für Neues Denken" in der Kategorie Wissenschaft ausgezeichnet. 2014 gewann er den Preis für exzellente Lehre der Hochschule Coburg, 2019 wurde er in die Europäische Akademie der Wissenschaften und Künste berufen.red