Die Folgen der Corona-Krise in Coburg: Die Angst vor zu großer Nähe

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Keine Masken, keine Abstände im fast ausverkauften Haus: wann wird es im Landestheater und anderen Veranstaltungsorten in der Region wieder so aussehen wie auf einem Foto von 2013? Der Weg zurück in die Normalität nach dem langen Corona-Lockdown kann ein langer Weg werden.Foto: Archiv/Jochen Berger
Keine Masken, keine Abstände im fast ausverkauften Haus: wann wird es im Landestheater und anderen Veranstaltungsorten in der Region wieder so aussehen wie auf einem Foto von 2013? Der Weg zurück in die Normalität nach dem langen Corona-Lockdown kann ein langer Weg werden.Foto: Archiv/Jochen Berger
Professor Niko KohlsFoto: Hochschule Coburg
Professor Niko KohlsFoto: Hochschule Coburg
 

Warum sich Menschen auch nach den Lockerungen der Corona-Beschränkungen oft noch so verhalten, als gäbe es diese Lockerungen nicht. Der Coburger Hochschul-Professor Niko Kohls nennt Ursachen und zeigt Lösungen.

Mit den Lockerungen der Corona-Bestimmungen haben die Menschen in der Region eigentlich viele Freiheiten zurück gewonnen. Warum aber verhalten sich erstaunlich viele Bürger beispielsweise beim Besuch von Veranstaltungenimmer noch zögerlich? Niko Kohls, Professor für Gesundheitswissenschaften an der Hochschule Coburg, erklärt im Interview, warum das so ist und wie der Ausbruch aus dem unsichtbaren Gefängnis gelingen kann.

Nach den Lockerungen der Corona-Beschränkungen könnten viele Veranstalter unter Einhaltung der 2G/3G-Regeln eigentlich wieder sehr viel mehr Plätze anbieten. Dennoch berichten Veranstalter bei allem verbal geäußerten Interesse möglicher Besucher von dem Phänomen, dass immer wieder auch eigentlich verkaufte Sitzplätze leer bleiben. Wie lässt sich das erklären?

Niko Kohls: Da haben sich Wahrnehmungstrichter und damit einhergehend das Risikoverhalten verändert aufgrund der Coronasituation über eineinhalb Jahre. Üblicherweise braucht man 30 bis 40 Tage, bis sich ein Habit eingeschliffen und stabilisiert hat, das "Löschen" ist deutlich schwieriger. Die Leute haben sich von sozialen Situationen entwöhnt durch den Lockdown und fragen sich dann "braucht es das wirklich jetzt oder bleib ich einfach daheim wie die letzten eineinhalb Jahre auch? Das trifft vor allem auf introvertierte Leute zu, die eh nicht so ein großes Bedürfnis nach sozialer Aktivität haben. Auch wenn sie theoretisch Lust darauf haben, mal wieder auszugehen oder irgendwo einer größeren Veranstaltung beizuwohnen, entscheiden sie sich dann kurzfristig doch dagegen, wenn sie vor der Entscheidung stehen zu gehen oder nicht. Im Grunde ist das aus dem Eventmarkt auch bekannt, dass Leute Gutscheine kaufen, die sie dann nicht einlösen, weil ihnen der Aufwand zu groß ist, das kalkulieren die Anbieter ja sogar mit ein. Hier kommt halt Gewohnheit und bestehende Angst oder zumindest Unsicherheit zusammen!

Wenn zu einem solchen Verhalten - bei aktuellem Kenntnisstand - keine zwingenden medizinischen Gründe vorliegen: wo ist die Grenze zu krankhaften Verhaltensweisen?

In dem Moment, wo sie die Kriterien einer dementsprechenden Störung erfüllen wie zum Beispiel einer Agoraphobie und diese nicht nur vorübergehenden Anpassungsprobleme darstellen. Mit anderen Worten, wenn die Menschen feststellen, dass es ihnen Angst macht, soziale Situationen aufzusuchen und sie darunter anfangen längerfristig zu leiden, weil sie ihr gewohntes Leben nicht mehr leben können, ist der Punkt gekommen, wo man darüber nachdenken sollte, wie dem aktiv begegnet werden kann. Dazu hilft es, sich auch zu öffnen und mit anderen darüber zu sprechen.

"Abstände konnte man verordnen. Keine Angst mehr zu haben kann man nicht verordnen". Was sagen Sie zu dieser Aussage eines Chorleiters nach ersten Erfahrungen bei der Probenarbeit nach den Lockerungen?

Kluger Mann, so ist es, die Angstkreisläufe sind in älteren Gehirnteilen wie zum Beispiel dem Mandelkern (Amygdala) verortet und brauchen länger, um sich wieder neu einzupendeln. Und Gewohnheit ist ein Tyrann, heißt es. Viele kennen die Geschichte von dem jahrelang angeketteten Elefanten, der, nachdem er von seinen Ketten befreit wurde, trotzdem nicht aus dem Bereich hinausging, den die Ketten ihm erlaubt hatten. Seine innere, mentale Landkarte entspricht genau der Länge der Kette.

Gibt es zu diesem Phänomen oder zu vergleichbaren Phänomenen bereits Studien? Wenn ja: was ließe sich daraus ableiten?

Risikoverhalten ist sehr gut untersucht und der israelisch-US-amerikanischer Psychologe und Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Daniel Kahn eman hat dazu ein sehr erhellendes Buch mit dem Titel "Schnelles Denken, langsames Denken" geschrieben, das auch die Grundlage der Verhaltensökonomik darstellt, die sogenannte Neue Erwartungstheorie. Die mittlerweile neurobiologisch gut bestätigte Grundaussage ist: Menschen sind eher risikoaversiv eingestellt und ihnen ist es wichtiger, Verluste zu vermeiden. Insofern fragen sich die Leute in der konkreten Situation "Ist mir der Abend heute das Risiko und den ganzen Aufwand wert?"

Könnte dieses Phänomen auch Thema für eine von der Hochschule Coburg initiierte Studie sein?

Im Prinzip ja, wir müssten halt mit den lokalen Veranstaltern sprechen!

Ganz praktisch gefragt: Was kann man grundsätzlich tun, um aus dieser negativen Spirale auszubrechen?

Ja, bewusst, reflektiert und achtsam seine Wahrnehmungen reflektieren und sich wieder sozial "eingrooven"! Wenn schon als "Starter" kein ganzer Abend mit 500 Leuten im Konzert, dann vielleicht erstmal eine Pizza abholen und nebenher einen Espresso trinken. Dann das Ganze gezielt und systematisch ausdehnen, zum Beispiel durch einen Restaurantbesuch mit dem Partner oder Familie, dann mit Freunden und schließlich in einer größeren Gruppe, bis hin zum Konzert. Ganz wichtig, es muss nicht das Ziel sein, wieder zum Vor-Corona-Verhalten zurückzukommen, wenn man feststellt, dass man eigentlich gut mit dem neuen Verhalten zurechtkommt.

Was könnten eventuell auch Veranstalter tun, um diese Verhaltensweise aufzubrechen? Deutlicher kommunizieren, wie konkret die Saalbelegung aussehen wird? Die Zahl der Sitzplätze bei den Veranstaltungen nach und nach erhöhen und nicht sofort auf vollständige Auslastung setzen?

Das ist sicher eine Möglichkeit, vielleicht könnte man auch mit einem Stufensystem anfangen, zum Beispiel von eins bis vier in Abhängigkeit von der sozialen Kontaktnähe und das vorab kommunizieren, so dass jeder seinem Level entsprechend teilnehmen kann. Auf der anderen Seite führt dies dazu, dass noch mehr Wahrnehmung auf dem Corona-Problem liegt, in der Psychologie heißt das "Salienz", und dass damit natürlich die Unsicherheitsgefühle wieder befeuert werden. Das ist keine leichte Situation, die uns aber zeigt, dass ein Zurück zu "normal" eben nicht so leicht möglich ist wie das Ein- oder Ausschalten eines Lichtschalters.

Die Fragen stellte Jochen Berger

Zur Person

Der Psychologe Niko Kohls beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren als Wissenschaftler und Berater schwerpunktmäßig mit den Zusammenhängen von Achtsamkeit, Werten sowie Gesundheit, Lebensqualität und Leistungsfähigkeit. Seit 2013 ist er an der Hochschule Coburg als Professor für Gesundheitswissenschaften im Bereich Integrative Gesundheitsförderung tätig. Im selben Jahr wurde Niko Kohls von dem Netzwerk "Weimarer Visionen" mit dem "Amalia-Preis für Neues Denken" in der Kategorie Wissenschaft ausgezeichnet. 2014 gewann er den Preis für exzellente Lehre der Hochschule Coburg, 2019 wurde er in die Europäische Akademie der Wissenschaften und Künste berufen.red