Eine tschechische Autorin schlägt mit "Das Vermächtnis der Göttinnen" eine historische Brücke bis zur "Hexenverfolgung" der jüngsten Vergangenheit im tschechischen Sozialismus. Ihr Roman über die letzten Heilerinnen in den Weißen Karpaten beruht auf wahren Schicksalen. Bei aller dokumentarischen Genauigkeit: Magie bleibt.
Es sieht in den Weißen Karpaten nicht viel anders aus als hier bei uns im Frankenwald, im Thüringer Wald oder der Fränkischen; etwa 900 Meter hoch, meist eher relativ sanfte Höhenzüge, zwischen Tsche chien und der Slowakei gelegen, gar nicht so weit entfernt. Die Gegend hat etwas Vertrautes, nicht nur im Äußerlichen und trotz der slawischen Prägung. Das Gebiet um Žítková blieb nur aufgrund der politischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts länger im Abseits.
Dort war bis in die 90er Jahre eine Tradition lebendig, auf deren Ausrottung geistliche wie weltliche Machtsysteme in ganz Europa über die Jahrhunderte hinweg gewalt-tätige Kraft verwendeten. Coburg, Bamberg, Kronach haben alle ihre Geschichte, die unter dem Stichwort "Hexenverfolgung" zusammengefasst ist. Deshalb mag eine schon im Titel als merkwürdig bezeichnete Geschichte aus den Weißen Karpaten hier durchaus besonders berühren.
"Das Vermächtnis der Göttinnen" der tschechischen Autorin Katerina Tucková schlägt einen esoterischen Ton an, ist aber sogar weit rea litätsnäher und faktisch belegter als was man sonst unter Roman versteht. Die 1980 in Brünn geborene Kunst-, Literatur- und Sprachwissenschaftlerin hat das Schicksal der bis in die Gegenwart aktiven Heilerinnen in dem mährisch-slowakischen Gebiet erforscht. Sie waren über Jahrhunderte hinweg die einzigen medizinischen und psychologischen Ratgeber. In der uralten Traditionslinie wurden ihnen stets auch magische Fähigkeiten zugeschrieben. Weshalb sie in diesem Raum "Göttinnen", auf tschechisch bohyné, genannt wurden. Sie waren jedoch eher bodenständige, sehr einflussreiche und unmittelbar wirkende Instanzen, die ihre Kenntnisse von Generation zu Generation weitergaben, unabhängig von allen Machthabenden.
Katerina Tucková dringt über das Schicksal einer der letzten dieser Heilerinnen, im Roman Surmena genannt (1910 - 1979), bis ins 17. Jahrhundert zurück. Zugrunde liegen wahre Frauenschicksale; Namen und manche Zuordnung hat Tucková geändert, um die noch heute in Žítková, Stary Hrozenkov und Drietoma lebenden Nachkommen zu schützen.
Der Roman ist neben seiner prägnanten Vergegenwärtigung zahlreicher berührender Lebensgeschichten, die alle ineinander greifen, vor allem deshalb so erschütternd, weil er historische Dokumente (zwar bearbeitet, aber sehr textnah) von den Folterprotokollen der Hexenprozesse bis zu den Gerichts- und Psychiatrie-Akten des Sozialismus gekonnt verwebt mit der literarischen Fiktion - die am Ende aber erst wirklich in die Wahrheit der historischen Geschehnisse eindringt.
Gefoltert in der Psychiatrie
Die Hauptfigur, Dora Idesova, wächst nach der Ermordung ihrer Mutter bei ihrer Tante Surmena auf. Obwohl sie Surmena sehr liebt, wendet sie sich ab von der heilerischen Familientradi tion, wird statt dessen Ethnografin, um den von ihr selbst vielfach beobachteten, oftmals auch nicht geheuren Phänomenen auf wissenschaftlicher Basis nachzugehen.
Erst als die Archive der Staatssicherheit Anfang der 90er Jahre geöffnet werden, entdeckt sie, dass ihre in der Psychiatrie gestorbene Tante Surmena vom sozialistischen System systematisch als Staatsfeind verfolgt, mit Elektroschocks und Medikamenten gefoltert und getötet wurde. Sie endete prinzipiell nicht anders als ihre Vorfahrinnen, die "Hexen" Katerina Shanelka und Katerina Divoka im 17. Jahrhundert.
Dora stößt auf ein SS-Sonderkommando, das unter Heinrich Himmlers unmittelbarer Leitung über die Hexenverfolgung in Europa auffindbares Material sammelte. Die Nazipropaganda wollte verkünden, dass die Hexen in Wirklichkeit die Tradition germanischer Priesterinnen bewahrt hätten. Die Berichte von den "Göttinnen" in den Weißen Karpaten versetzten Himmlers Kommando in besondere Aktivität. Das große Archiv, Himmlers sogenannte Hexenkartothek, liegt heute in Poznan in Polen und ist einsehbar.
Der Roman zeigt die Vielschichtigkeit historischer Prozesse an Leib und Seele konkreter Personen. Erschreckend sind Vorgehen und Argumentationsweisen unter vermeintlich wissenschaftlich-rationalem Gebot in der jüngsten Vergangenheit, hinter dem sich doch nur wieder der alte, vor nichts zurückschreckende Machtgeist verbirgt.
Der wechselt sein Mäntelchen unter Denunziation, Verteufelung und Fanatismus so geschickt, dass man es meist zu spät bemerkt. Heute wie eh und je.
Und dann aber trotzdem: In all dem von Katerina Tucková durchforsteten Material der Archive bleibt ein unerklärter und unerklärlicher Raum des Geheimnisvollen, Magischen, was auch immer das sei. Den umreißt Tucková in ihrer nüchternen, doch psychologisch sensiblen Erzählweise, hält ihn aus, ja legt ihn vorsichtig frei, ohne ihn voreilig erklären zu wollen. Denn, um mit Shakespeare zu kommen, der sich ebenfalls immer wieder dem Ungeheuerlichen näherte: "Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt."
P.S.: Der erste, preisgekrönte Roman Katerina Tuckovás heißt "Die Vertreibung der Gerta Schnirch" und befasst sich mit den Schicksalen deutschsprachiger Bürger Brünns nach dem Zweiten
Weltkrieg.
dierte Kunstgeschichte, Literatur- und Sprachwissenschaft. Sie ist als Kuratorin, Sachbuchautorin und Schriftstellerin tätig. 2010 erhielt sie den wichtigsten Literaturpreis des Landes, den Magnesia Litera, für "Die Vertreibung der Gerta Schnirch"; für "Das Vermächtnis der Göttinnen", das in elf Sprachen übersetzt wird, wurde sie unter anderem mit dem dem Tschechischen Bestsellerpreis und dem Magnesia Litera Publikumspreis ausgezeichnet. Das Buch verkaufte sich 100 000 Mal in Tsche chien.
Das Buch Katerina Tucková: Das Vermächtnis der Göttinnen. Roman. Deutsche Verlagsanstalt München,