Im Alter von 84 Jahren ist Helmut Scheuerich noch einmal auf Spurensuche gegangen. Diesmal befasst er sich mit den Menschen, die im 19. Jahrhundert ihre Heimat vNeustadt bei Coburg erlassen und sich auf den Weg nach Amerika gemacht haben.
Angefangen hat die Geschichte dieses Buches vor 40 Jahren. Damals sollte Helmut Scheuerich (in seinem Amt als Neustadter Heimatpfleger) für ein amerikanisches Geschichtsbuch einen Aufsatz über das Verhältnis zwischen Bayern und den USA schreiben.
Doch das Projekt platzte - durch den tragischen Tod der beteiligten Übersetzerin. Doch seine Erkenntnisse über die vielen Neustadter, die es über den Atlantik nach Amerika verschlug, ließen Scheuerich nie los. Jetzt hat er sie niedergeschrieben und am Montagabend als Buch im Rathaus vorgestellt. Dessen Titel und zentrale Frage lautet: "Lag das Glück in Nordamerika?"
So richtig freiwillig, das stellte Scheuerich gleich zu Beginn klar, dürfte im 19. Jahrhundert kaum ein Neustadter ausgewandert sein.
Wirtschaftliche Not, Hunger und nicht zuletzt die ungeheuerlichen Ungerechtigkeiten der herzoglichen Obrigkeit waren für viele Menschen der Anlass, ihr Glück woanders zu suchen. Rund 400 Menschen aus der Kernstadt und den heutigen Stadtteilen waren es, die Helmut Scheuerich als sichere Auswanderer in der Zeit zwischen 1831 und 1890 in verschiedensten Archiven entdeckte. Eine große Zahl, die den ehemaligen Heimatpfleger zum Schluss führte: "Fast jede alteingesessene Neustadter Familie dürfte Verwandte in den USA haben." Scheuerich geht es da nicht anders.
Am Anfang stand für die Auswanderer zumeist ein schmerzvoller Abschied. Unter "Seufzen, Wehklagen und Herzeleid", wie Helmut Scheuerich aus einem Auswandererbrief in die Heimat zitierte, ging es per Schiff von der Nordsee aus los. Schon die Überfahrt war ein großes Wagnis: Sie dauerte zwischen 6 und 15 Wochen, nicht selten starben dabei schon die ersten Passagiere.
50 Schiffe, die von Neustadtern benutzt wurden, ermittelte der Autor - fast die Hälfte davon sind im Bild Teil des Buches.
Helmut Scheuerichs Blick auf die Schicksale der Auswanderer beleuchtet aber auch die Situation der Neustadter daheim. Die litten unter anderem unter einem herzoglichen Erlass, der das Heiraten für Normalsterbliche angesichts horrender Gebühren quasi unmöglich machte. "Armen-Zöllibat" wurde diese 1810 erlassende Regelung genannt, die für viele Paare der endgültige Anlass für die Flucht nach Amerika war.
90 Frauen, schätzt Scheuerich in seinem Buch, seien deshalb aus Neustadt weggegangen. 1852, das "Armen-Zöllibat" sollte da noch 16 weitere Jahre gelten, meldeten gleich 70 Neustadter aus ihrer Heimat ab - eine Rekordzahl.
Jede Menge Quellen
Akten, das Staatsarchiv, Kirchenbücher, Stadtchroniken und Passagierlisten
durchforstete der inzwischen 84 Jahre alte Scheuerich auf der Suche nach Neustadter Auswanderern. Einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt der Autor dabei nicht - alleine schon deshalb, weil seine Namenslisten am Wechsel von 19. ins 20. Jahrhundert enden. "Alles weitere wäre zu viel gewesen", erklärte Scheuerich nach der Buchvorstellung dem Tageblatt. Kein Wunder, schließlich brachten erst da die zwei großen Weltkriege noch einmal eine Welle an Flucht und Vertreibung mit sich.
Ob er sich mit nun 84 Jahren als Autor zur Ruhe setzen wird? Auf diese Frage lehnte sich Scheuerich zurück und lächelte still vor sich hin. "Eigentlich ist es jetzt einmal genug", sagte er dann. Eigentlich...
Rebhan und die Geschenke des Himmels Für Oberbürgermeister Frank Rebhan (SPD) war es fast schon erschreckend, wie "unglaublich aktuell" denn das neue Buch von Helmut Scheuerich ist.
Denn die Auswanderer des 19. Jahrhunderts - sie waren Flüchtlinge, genauso wie die Menschen, die derzeit mit unsicherer persönlicher Zukunft in der Frankenhalle untergebracht sind.
Rebhan kam zu Scheuerichs Buchvorstellung gerade noch pünktlich. Erst kurz zuvor hatte er die Frankenhalle nach Gesprächen mit den Asylbewerbern verlassen. Dass in Deutschland derzeit rechte Gruppierungen gegen solche Unterkünfte mit Gewalt mobil machen, entsetzte Rebhan: "Das sind unsägliche Szenen."
Der Neustadter Oberbürgermeister wäre dagegen froh, wenn nicht jeder derzeit übergangsmäßig in der Frankenhalle untergebrachte Flüchtlinge bald eine neue Heimat außerhalb von Neustadt finden würde.
Rebhan berichtete zum Beispiel von einem Ehepaar - er Bauingenieur, sie Allgemeinärztin.
"So eine Familie wäre ein Geschenk des Himmels für unsere Stadt", sagte der OB in seiner Einführung zu Helmut Scheuerichs neuem Buch. Eine Stadt, die auf Dauer keine der vielen gut ausgebildeten Flüchtlinge halten könne, werde schon bald "weit, weit zurückfallen". Davon war Rebhan überzeugt.
Der mit nahezu 60 Gästen sehr gute Besuch der Buchvorstellung war für Frank Rebhan - der Kultur-Bürgermeister Martin Stingl (SPD) die Einführungsrede nach eigenem Bekunden "weggeschnappt" hatte - ein Zeichen, dass Helmut Scheuerich ein "außerordentlich interessantes Thema" aufgegriffen habe.
Mindestens sechs Millionen Deutsche seien im 19. Jahrhundert ausgewandert. Wegen Not, Hunger und Willkür - genau die Gründe, die derzeit die Menschen nach Deutschland kommen lassen.
bk
Deutsche waren mal Wirtschaftsflüchtlinge? Und wurden im Land ihrer Träume einfach so aufgenommen? Sachen gibt's!