Niko Kohls: Es gibt in der Medizin bei Versorgungsengpässen Verfahren zur Priorisierung der Behandlung von Patienten nach Kriterien wie Krankheitsschweregrad oder Überlebenschance - auch unsere Studierenden der Integrativen Gesundheitsförderung sind oft zunächst geschockt, wenn sie sich zum ersten Mal damit beschäftigen. Die so genannte "Triage" kommt zum Tragen, wenn es massenhaft Verletzte gibt wie z.B. beim ICE-Unglück in Eschede. Um die Abläufe zu verbessern, setzen aber auch viele Notaufnahmen strukturierte Triage-Werkzeuge wie das Manchester-Triage-System zur Ersteinschätzung ein. Auch bei Regiomed gehört das zum Standard.
Werden die Menschen Gesundheit künftig anders sehen?
Giordano:
Solche Krisen zeigen, wie wichtig Gesundheitsförderung ist. Wenn wir merken, dass bestimmte Umwelteinflüsse oder Lebensstile krank machen, steigt im jeweiligen Bereich der Bedarf an Prävention. Gerade erkennen wir, dass sich individuelle Gesundheit und die der Gemeinschaft wechselseitig beeinflussen, durch das Berufliche, das Soziale bis hin ins Politische. Das Gefühl, quasi immun zu sein gegen eine große, allumfassende Gesundheitskrise - das hat sich verändert. Das Verantwortungsbewusstsein jedes Einzelnen wird nun noch zunehmen, genau wie die Verpflichtung der Staaten, professionelle Gesundheitsprogramme einzurichten, die uns besser vorbereiten und schützen. Aber auch wenn wir Covid-19 behandeln können, wenn wir zurück zur Arbeit, in die Restaurants und Bars gehen, wird sich das Gefühl verändert haben. Es bleibt das Gefühl, dass so etwas wieder passieren kann.
Kohls:
Wir werden vermutlich eine Art post-pandemische Paranoia erleben, also eine zweite psycho-soziale Krise. Wobei man auch sagen muss, dass unser Verhalten bisher epidemiologisch schlicht unbekümmert naiv war. In Asien laufen die Menschen - teils von uns belächelt - seit Jahren mit Masken herum. Spätestens seit der Vogelgrippe 2006.
Wie bewerten Sie die Maßnahmen im internationalen Vergleich?
Giordano:
Die Maßnahmen von Ländern wie Österreich, Deutschland, Singapur und Südkorea waren vorbildlich. In mancher Hinsicht können sie den USA als Modell dienen. Was Schweden macht, ist interessant. Schwedische Epidemiologen setzen darauf, die am stärksten gefährdeten Menschen besonders zu schützen. Dabei das öffentliche Leben weiterlaufen zu lassen und auf das Verantwortungsbewusstsein der Bürger zu vertrauen, ist ein Experiment - sowohl zur öffentlichen Gesundheit als auch zur sozialen Verantwortung. Um die Wirksamkeit genauer zu bewerten und sinnvolle Maßnahmen für andere Länder abzuleiten, sind aber weitere Daten erforderlich.
In Deutschland dreht sich jetzt viel darum, das wirtschaftliche und soziale Leben wieder hochzufahren - wie ordnen Sie die verschiedenen Argumente ein?
Giordano: Zweifellos ist es wichtig, die sozioökonomische Stabilität wiederherzustellen. Gleichzeitig hat die öffentliche Gesundheit Priorität - wenn nicht oberste Priorität. Ein echtes Dilemma.
Kohls: Wenn wir alle unsere Anstrengungen in die Bekämpfung der medizinischen Krise stecken, kann es sein, dass wir das Virus in den Griff bekommen - aber damit handeln wir uns jede Menge andere Probleme ein, vor allem die wirtschaftliche und psycho-soziale Krise, deren Konturen jetzt auch immer sichtbarer werden. Die anfängliche Lockdown-Strategie von Ländern wie Deutschland stand zunächst in der philosophischen Tradition der Pflichtenethik Immanuel Kants. Jetzt kippt die Stimmung zugunsten einer zweckorientierten Ethik, die den Nutzen des Handelns für die Gemeinschaft in den Vordergrund stellt. Es ist auch ein Dilemma zwischen dem Wohl Einzelner und dem Recht von Vielen.
Was ist jetzt also richtig und gut?
Giordano: Ausbalancierte Maßnahmen, um die drei skizzierten Problemfelder anzugehen: die Auswirkungen auf öffentliche Gesundheit, auf die Wirtschaft und die psychosozialen Belastungen. Unsere Forschungsgruppe ist der Ansicht, dass Testungen in großem Maßstab eine entscheidende Hilfe wären. Und das in Verbindung mit einer Klassifizierung: als derzeit infiziert, als zuvor infiziert und relativ immun oder als noch nicht infiziert und wahrscheinlich anfällig. So könnte herausgefunden werden, wer wieder in die Arbeitswelt zurückkehren und die Wirtschaft zumindest bis zu einem gewissen Grad wieder stabilisieren kann - und wer zunächst keine oder nur eingeschränkte soziale Kontakte haben soll.
Das Gespräch führte Natalie Schalk.