Immer öfter muss sich die Coburger Justiz mit versuchtem Totschlag beschäftigen. Das liegt, wie Leitender Oberstaatsanwalt Anton Lohneis im Gespräch erklärt, auch an der deutlich strengeren Betrachtung der Taten.
Es ist die Nacht vor Heiligabend. In der Kronacher Innenstadt kommt es zu einer brutalen Auseinandersetzung. Eine Gruppe junger Leute gerät mit einer anderen in Streit. Zunächst nur mit Worten, dann eskaliert die Situation. Ein 20-Jähriger aus dem Landkreis Kronach schlägt einen 17-Jährigen aus Niedersachsen mit einem Schlagring zu Boden, versetzt ihm dann Tritte gegen den Kopf und den Oberkörper. Das Opfer wird im Gesicht verletzt, glücklicherweise nicht lebensgefährlich.
Der Schläger flüchtet, wird aber kurz darauf festgenommen. Er sitzt in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft Coburg ermittelt gegen ihn - wegen versuchten Totschlags.
Immer wieder hat es in den vergangenen Jahren ähnliche Fälle im Zuständigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft (Coburg, Kronach, Lichtenfels) gegeben.
Dabei ziehen Tritte gegen den Kopf eines Opfers inzwischen generell den Tatvorwurf der versuchten Tötung nach sich. Es hat den Anschein, dass solche Vorfälle in den zurückliegenden Jahren zugenommen haben. Dass das nicht nur "gefühlt" so ist, sondern tatsächlich, bestätigt Anton Lohneis, Leitender Oberstaatsanwalt bei der Coburger Justiz, im Gespräch mit unserer Zeitung.
Jährlich 11 000 Strafverfahren "Die Zahlen steigen generell." Allerdings sei das Vorgehen der Justiz, was den Tatbestand der versuchten Tötung angeht, in den letzten Jahren auch massiver geworden. "Tritte sind früher als gefährliche Körperverletzung durchgegangen", erläutert Lohneis.
"Inzwischen gehen wir dabei aber prinzipiell von versuchter Tötung aus."
Die Erfahrung zeige nämlich, dass insbesondere Tritte gegen den Kopf lebensgefährlich seien und mit dem Tod enden könnten - erinnert sei nur an den aktuellen Mord-Prozess. "Deswegen ordnen wir solche Taten anders ein, was letztlich die Zahl der Fälle erhöht."
Jedes Jahr bearbeitet die Coburger Justiz rund 11 000 Strafverfahren. Dazu gehören beispielsweise Betrugsfälle und Diebstähle, aber auch Schwurgerichtsverfahren, das heißt, Verfahren, bei denen es vor allem um Mord oder Totschlag geht. Für 2012 weist die Statistik 27 Schwurgerichtsverfahren aus - in 20 Fällen ging es um versuchten Totschlag, sieben Verfahren waren Mordanklagen. 2013 waren es fünf Mordanklagen und 24 versuchte Tötungen, im vergangenen Jahr vier Mordanklagen und 33 versuchte Tötungen - ein deutlicher Anstieg.
Allerdings müsse man dabei zwei Dinge berücksichtigen, sagt Lohneis.
Werde gegen einen Tatverdächtigen beispielsweise wegen versuchten Totschlags ermittelt, bedeute das nicht notgedrungen, dass derjenige am Ende im Prozess auch dafür verurteilt wird. Manchmal stelle sich eben erst im Verlauf der Gerichtsverhandlung heraus, dass eine versuchte Tötung "nur" eine gefährliche Körperverletzung war, macht der Oberstaatsanwalt deutlich.
Außerdem müsse man auch das Verhältnis sehen: Von den 11 000 Strafverfahren enden knapp 40 vor dem Schwurgericht. "Das ist eine andere Dimension. Daran erkennt man die Exponiertheit von Schwurgerichtssachen." Dass die Gewaltbereitschaft in der Region höher ist als anderswo, dass der Bereich Coburg-Kronach-Lichtenfels gar ein besonders heißes Pflaster ist, will Lohneis allerdings nicht bestätigen.
"Die Zahlen steigen im gesamten Bereich des Oberlandesgerichtes." Das OLG Bamberg ist sowohl für Ober- als auch für Unterfranken zuständig.
Nicht nur bei der Coburger Justiz habe man sich darauf verständigt, Tritte gegen den Kopf strenger zu ahnden, betont der Leitende Oberstaatsanwalt. Es sei inzwischen bayernweit die allgemeine Vorgehensweise, dass Tritte in einer gewissen Massivität als versuchte Tötung verfolgt werden. "Das sieht auch der Generalstaatsanwalt so."
U-Haft hinterlässt Eindruck Dass sich diese Strenge auf das künftige Verhalten der Angeklagten beziehungsweise Verurteilten positiv auswirken könnte, glauben sowohl Anton Lohneis als auch sein neuer ständiger Vertreter, Oberstaatsanwalt Martin Dippold.
Wandere ein Tatverdächtiger unmittelbar nach einer Tat für sechs bis neun Monate in Untersuchungshaft, so hinterlasse das einen intensiven Eindruck, weiß Dippold. "Gerade bei den jungen Leuten sollte diese Botschaft ankommen" und natürlich auch abschreckend wirken, ergänzt Lohneis. Dass diese "Botschaft" aber längst nicht alle erreicht, zeigten die Zahlen. "Die Täter werden nicht weniger."
Von "cleveren" Maschen und zu viel künstlerischer Freiheit im Fernseh-Tatort Ein mysteriöser Leichenfund in Coburg, Schießereien in Kronach und Lichtenfels, versuchte Totschläge, Vergewaltigung, ein mutmaßlicher Auftragsmord in Beiersdorf und dazu noch diverse kuriose Fälle wie die Klebe-Kennzeichen von Brose-Chef Michael Stoschek oder die geschönten Abiturnoten am Gymnasium Casimirianum.
Über zu wenig Arbeit kann sich die Coburger Staatsanwaltschaft nicht beklagen. Nach zwei Monaten allein an deren Spitze hat Leitender Oberstaatsanwalt Anton Lohneis nun wieder einen ständigen Stellvertreter: Martin Dippold verstärkt seit 1. Januar die Coburger Justiz als Oberstaatsanwalt.
Martin Dippold vertritt Lohneis Für die hiesige Staatsanwaltschaft ist der 51-jährige Bamberger kein Unbekannter. Von 2006 bis 2008 war er in Coburg schon als Gruppenleiter tätig, ehe er als Oberstaatsanwalt zurück nach Bamberg wechselte. Lohneis freut sich, nach dem Wechsel von Ursula Haderlein nach Schweinfurt vor zwei Monaten, mit Martin Dippold wieder einen ständigen Vertreter zu haben: "Er ist mit der wichtigste Mann hier.
Er macht die gewichtigen Verfahren" - dazu gehören auch versuchte Tötungen (siehe Text oben), aber auch seltenere oder kuriosere Fälle wie Ermittlungen gegen einen Polizeibeamten wegen Körperverletzung im Amt oder eine anonyme Anzeige gegen einen Bürgermeister...
Realität schlägt jede Fantasie Apropos kurios: Bei den Fällen, mit denen man es als Jurist täglich zu tun bekomme, schlage die Realität oft jede Fantasie, wie Dippold in seiner 22-jährigen Laufbahn festgestellt hat. Das kann auch Anton Lohneis bestätigen, gerade was besonders "clevere" Maschen von Betrügern angeht. "Man glaubt immer, man hätte schon alles gesehen, aber dann kommt wieder etwas Neues und man denkt: Aha!" Als Staatsanwalt sei man einfach "verdammt nah dran am Leben".
Gerade vor diesem Hintergrund ist es aber auch wichtig, die nötige Distanz zu halten.
Denn oft genug sind Lohneis, Dippold und ihre Kollegen mit Fällen konfrontiert, bei denen einem schlicht das Lachen vergeht, die einen stärker berühren als andere Geschichten. Etwa dann - wie Lohneis sagt -, wenn Kinder die Opfer sind. Es gelte immer, professionell zu agieren, sagt Dippold. "Schließlich sind wir dazu da, Verbrechen zu verfolgen." "Das ist eine Frage der Disziplin", ergänzt Lohneis. "Es ist ein Stück Lebensschule, nicht alles so dicht an sich heranzulassen. Wir müssen vernünftig entscheiden und das können wir nicht, wenn wir weinend am Tatort stehen."
Tatort? Ja, regelmäßig! Stichwort "Tatort": Schaut man sich als gestandener Jurist eigentlich Krimis im Fernsehen an? Lohneis und Dippold lachen und geben zu: Ja, sie gehören zum regelmäßigen Tatort-Publikum.
Allerdings beanstandet Martin Dippold, dass gerade Richter und Staatsanwälte darin doch oft "etwas trottelig" dargestellt würden. Und auch das Verhältnis von Polizei und Staatsanwaltschaft sei im wirklichen Leben ganz anders. "Es wirkt immer so, als hätte der Staatsanwalt sein Büro bei der Polizei", sagt Lohneis schmunzelnd und dass ein Staatsanwalt den Beamten dienstrechtliche Anweisungen erteile, komme in der Realität nicht vor. "Wir haben ein sehr gutes Verhältnis zu unserer Polizei", betont Lohneis. Aber eines gefällt ihm und seinem Stellvertreter am "Tatort" dann doch richtig gut, auch wenn das nun wirklich nur künstlerische Freiheit ist: "Die Staatsanwälte haben immer ganz tolle Wohnungen und Büros."