Bricht die Bundesregierung die Verfassung, indem sie Flüchtlinge unkontrolliert einreisen lässt? Staatsrechtler Prof. Andreas Funke von der Uni Erlangen sieht aufgrund der bestehenden Gesetzeslage keinen Bruch der Verfassung.
Die Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) verliert immer mehr Zustimmung in der Bevölkerung und beim Koalitionspartner. Selbst SPD-Politiker fordern einen Kurswechsel und setzen sich ein, die Zugangszahl zu drosseln. Aber wie realistisch sind solche Forderungen nach einer Obergrenze beim Zustrom von Flüchtlingen? Im Interview mit dieser Zeitung äußert sich dazu Prof. Andreas Funke vom Institut für Rechtsphilosophie und Allgemeine Staatslehre der Uni Erlangen.
Die bayerische Staatsregierung behält sich wegen der für Flüchtlinge offenen deutschen Grenzen die Klagedrohung gegen den Bund vor. Der frühere Verfassungsrichter Udo di Fabio hatte zuvor in einem Rechtsgutachten bestätigt, dass die Grenzöffnung für Flüchtlinge nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei.
Wie beurteilen Sie die Rechtslage?
Andreas Funke: Das ist eine sehr schwierige Frage. Wir haben es hier mit einer Kaskade von rechtlichen Ausnahmen zu tun. Grundsätzlich muss daran erinnert werden, dass Grenzkontrollen an den europäischen Binnengrenzen nach dem Schengener System im Grundsatz nicht zulässig sind; ausnahmsweise können sie vorübergehend eingeführt werden. Für Flüchtlinge ist die Lage etwas komplizierter: Sofern sie, wie meistens, aus einem sogenannten sicheren Drittstaat einreisen (wie z. B. Österreich), ist ihnen nach dem Asylgesetz an sich die Einreise zu verweigern (§ 18). Auch insoweit gibt es aber eine Ausnahme. Die Einreise kann zugelassen werden, wenn die Bundesrepublik auf der Grundlage von europäischem Recht für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
Nach dem sogenannten Dublin-System ist Deutschland in den meisten Fällen eigentlich nicht zuständig. Doch stellt das Dublin-System es den EU-Staaten in ihr Ermessen, sich dennoch für zuständig zu erklären. Die Bundesrepublik hat dies getan, und damit muss den Flüchtlingen auch nicht die Einreise verwehrt werden. Soweit ich Herrn Di Fabio verstehe, setzt er weniger auf der Ebene dieser detaillierten Regelungen an als auf der Ebene der deutschen Verfassung. Dabei nimmt er die praktischen Folgen in den Blick, die die gesetzlichen Regelungen haben. Eine solche Argumentation ist natürlich sehr vage. Für ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht stehen die Chancen nicht sonderlich gut, wie Herr Di Fabio selbst einräumt.
Gibt ein Staat seine Staatlichkeit auf, wenn er seine Grenzen nicht mehr unter Kontrolle hat?
Das ist in etwa die These von Herrn Di Fabio.
Man kann ihr in dieser Zuspitzung eigentlich nicht widersprechen. Wir müssen aber vorsichtig sein. Der deutsche Staat verfügt über eine "europäisierte Staatlichkeit", für die er sich frei entschieden hat. Bewusst hat die Bundesrepublik der Europäischen Union Befugnisse in den Bereichen Asyl und Grenzkontrollen übertragen. Ich würde das Problem deshalb anders formulieren, und auch Herr Di Fabio weist auf diesen Punkt hin: Machen Regierung und Behörden derzeit nicht auf eine Weise von dem bestehenden System Gebrauch, die das System äußerlich zwar zulässt, die aber so nicht demokratisch beschlossen wurde? Darüber muss man diskutieren.
Die Bundeskanzlerin sagt, die 3000 Kilometer deutscher Grenzen, die könne man sowieso nicht schützen. Liegt sie da falsch?
Vielleicht sollten Sie diese Frage besser Fachleuten von der Bundespolizei stellen.
Rechtlich sind, wie schon gesagt, umfassende Grenzkontrollen gar nicht zulässig.
Nun gibt es ja auch Überlegungen, an den Grenzen so genannte Transitzonen einzurichten, in denen man Asylbewerber erst einmal vorläufig festhält und registriert. Der amtierende Justizminister sagt, das ginge rechtlich nicht. Ist das so?
Die europäische Verfahrensrichtlinie erlaubt (in Art. 43) die Errichtung von Transitzonen, wobei da wohl eher an die europäischen Außengrenzen gedacht ist. Man muss sich aber klar machen, was damit gemeint ist. Es geht um Einrichtungen, die sich direkt an der Grenze befinden. Die Schutzsuchenden gelten als noch nicht eingereist. Ich sehe deshalb die Probleme eher auf der Ebene der Umsetzung: Die betreffenden Personen müssen in diesen Einrichtungen menschenwürdig untergebracht werden und ihnen muss ein rechtsstaatliches Verfahren garantiert sein.
Die CSU und Teile der CDU wollen festlegen, wie viele Flüchtlinge Deutschland im kommenden Jahr aufnehmen kann und eine entsprechende Obergrenze einführen. Halten Sie das für eine gute Idee?
Nein. Rechtlich ist das derzeit ohnehin nicht möglich. Ich halte es aber auch nicht für ratsam, eine Obergrenze rechtlich festzulegen. Es sollte eher darüber nachgedacht werden, durch Feinjustierungen des gesamten Systems sicherzustellen, dass innerhalb Europas kein Staat überfordert wird.
Verfassungsrechtler sprechen bei Asyl ja auch häufig von einem Leistungsrecht. Leistungsrechte stehen aber nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts immer unter einem stillschweigenden Vorbehalt des Möglichen.
Wenn die Leistungsfähigkeit der Kommunen erschöpft ist, dann ist die Obergrenze erreicht - wie etwa jetzt im liberalen Schweden, das jahrelang viele Flüchtlinge aufgenommen hat. Ist das so legitim?
Weder das Grundgesetz noch das europäische Recht stellen den Flüchtlingsschutz unter einen Leistungsvorbehalt. Es ist ja gerade das bemerkenswerte am Grundrecht auf Asyl nach Art. 16a Grundgesetz, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes es als ein Leistungsrecht in die Verfassung aufgenommen haben. Sie wussten natürlich genau, dass Leistungen des Staates an sich unter einem solchen "Vorbehalt des Möglichen" stehen sollten. Deshalb haben wir zum Beispiel im Grundgesetz kein Recht auf Arbeit oder Wohnen.
Das Recht auf politisches Asyl ist im Artikel 16a des Grundgesetzes verankert.
Gibt es EU-Gesetze, die über diesem Artikel stehen?
Sagen wir besser "daneben": Die Europäische Union hat ein ausgefeiltes System des "internationalen Schutzes" geschaffen, das schlicht neben dem Grundgesetz steht. Dieses System regelt unter anderem die Anerkennung als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention für die EU-Mitgliedstaaten, geht aber auch darüber hinaus. So steht z. B. Menschen, die im Falle eines Bürgerkrieges um ihr Leben fürchten müssen und deshalb fliehen, sogenannter subsidiärer Schutz zu. Praktisch ist Art. 16a Grundgesetz neben diesem europäischen System nahezu bedeutungslos geworden. Nur zwei Prozent der schutzsuchenden Personen werden als Asylberechtigte im Sinne des Art.
16a anerkannt.
Es gibt Staatsrechtler, die die Auffassung vertreten, dass als Asylgrund nur die individuelle politische Verfolgung genannt werden könne; Krieg und Bürgerkrieg seien demnach also keine Asylgründe, wirtschaftliche Perspektivlosigkeit in unterentwickelten wie kinderreichen Gesellschaften schon gar nicht. Wie schätzen Sie das ein?
Man muss differenzieren. Wenn jemand seine Lebenssituation in ökonomischer Hinsicht verbessern möchte, steht ihm oder ihr weder nach dem europäischen Recht noch nach dem Grundgesetz ein Schutz zu. Krieg und Bürgerkrieg können aber, wie schon gesagt, den sogenannten subsidiären Schutz und im Falle einer Verfolgung durch Kriegsparteien auch die Anerkennung als Flüchtling begründen.
Andere europäische Staaten verstoßen gegen die Dublin-Regeln, sonst kämen die Flüchtlinge ja gar nicht bis nach Deutschland. Wie kann damit umgegangen werden?
Das Dublin-System muss dringend geändert werden. Alle europäischen Staaten sind aus meiner Sicht zu einer solidarischen Lösung verpflichtet.
Wo könnte die Lösung für Europa liegen? In Kontingenten von Flüchtlingen, die sich in Syrien und dem Nordirak aufhalten und von denen die EU eine gewisse Zahl aufnimmt?
Mit solchen Lösungen sind einige von Schwierigkeiten verbunden. Sie brächten aber einen entscheidenden Vorteil. Es würde - hoffentlich - der Druck für Schutzsuchende entfallen, gefahrvolle Fluchtwege auf sich zu nehmen.
Sie beschäftigen sich sehr mit der Frage des Migrationsrechts.
Wo liegen Ihrer Meinung nach die größten Defizite in der aktuellen Situation? Braucht Deutschland ein klarer definiertes Zuwanderungsrecht, das klar regelt, wer einwandern darf und welche Voraussetzungen erfüllt werden müssen?
Deutschland verfügt seit über zehn Jahren über ein Einwanderungsgesetz. Nur heißt es nicht so, sondern Aufenthaltsgesetz. Dieses Gesetz regelt die Einreise, den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern. Es ist auch nicht etwa daran orientiert, Einwanderung zu verhindern, sondern soll diese steuern und begrenzen. Im einzelnen regelt es sehr detailliert die Voraussetzungen für den Zuzug nach Deutschland. Soweit ich sehe, halten Praktiker und die Fachleute aus der Wissenschaft dieses Gesetz durchaus für leistungsfähig. Ich kann nicht nachvollziehen, dass viele Politiker sich trotzdem dem Ruf nach einem Einwanderungsgesetz anschließen.
Die größten Defizite liegen derzeit ganz klar auf der europäischen Ebene. Es ist bedauerlich, daß dort derzeit so wenig Einigkeit besteht und nationale Interessen im Vordergrund stehen.
Das Gespräch führte
Peter Groscurth.
ein wirklich tolles und fantasiereiches Interiew, dass Sie den Medien da erzählt haben - hätte ich selbst nicht besser machen können! Ihr Honorar für diese Gefälligkeit überweise ich Ihnen wie immer auf Ihr Konto in der Schweiz. Danke und denken Sie immer daran.... Wir schaffen das!
Liebe Grüße A.M.