Das Theater Wildwuchs hat sich der Erzählung vom "Sandmann" angenommen und ein wüstes Psycho-Drama daraus gemacht.
Es ist das Privileg der Jugend, ungestüm sein zu dürfen, auch und gerade in künstlerischen Dingen. Wenn ein Off-Theater das Wilde dazu im Namen trägt, sind die Signale gestellt für eine wüste Vorstellung.
Das heißt, einschränkend: Wild sind sie heute auch am Stadttheater. Da musste das "Theater Wildwuchs", eine (vormals) studentische semiprofessionelle Truppe, aus der Not eine Tugend machen und mit kargsten Mitteln eine Premiere auf die Bühne der Alten Seilerei stemmen, die sich gewaschen hat. Bzw. mit viel Remmidemmi ein zu großen Teilen junges, wohl studentisches Publikum enthusiasmieren.
Was ihr mit dem "Sandmann" nach E.T.A. Hoffmann auch gelungen ist. Bietet diese schauerromantische Erzählung aus dem Jahr 1816 doch Stoff genug, sich an ihr abzuarbeiten. Ödipale Familienkonstellationen spielen da eine Rolle, Obsessionen aller Art, die gerade zur Hoffmann-Zeit grassierende Faszination für künstliche Menschen, eine verdeckte Erotik ...
Antipsychiatrie und Antiödipus
Das Team um Regisseur Frederic Heisig hat all dies begeistert aufgegriffen. Und unter dem Vorzeichen des Antiödipus, einer in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts auch außerakademisch sehr populären antipsychiatrischen Theorie der französischen Meisterdenker Gilles Deleuze und Félix Guattari, die erschreckende Geschichte des Helden Nathanael interpretiert.
Wobei, ganz auf der Höhe der Zeit, die (Geschlechter-)Rollen frei changieren. Da spielt also auch einmal Kristina Greif den Nathanael, den ansonsten Sebastian Stahl und Daniel Reichelt in all seiner psychischen Labilität auf die Bühne (Johannes Haußner) wuchten, die spartanisch ausgestattet ist, wie es sich für Off-Verhältnisse gehört: mit einigen niedrigen Plattformen, einem zusammenimprovisierten hölzernen Turm. Die Rahmenerzählung hat Heisig mit monologisierenden Briefeschreibern und einer Erzählerstimme gut im Griff, die elektronischen Musik-Einsprengsel von Florian Berndt passen gut. Und die vier Schauspieler, Berndt gehört auch zum Quartett, überzeugen mit erstaunlicher Textsicherheit.
Soviel des Guten. Aber dieser antiödipale "Sandmann" leidet dann doch unter der typischen Krankheit solcher junger wilder Inszenierungen: Er ist überambitioniert. Da ist manches gelungen, manches überflüssig, da ist "das Automat" Olimpia eine originell zusammengeschraubte Gliederpuppe zwar, doch geht die Subtilität der Vorlage unter im Krach der Schauspieler, die alles geben (Sebastian Stahl als Coppelius gibt ganz arg viel), da schafft ein im Spiel auftretender Regisseur ein retardierendes Moment, da gipfelt das Drama in einer Selbstkastration. Dennoch: Das Privileg der Jugend wurde ausgenutzt, es war schön laut, das Publikum war begeistert. Weitermachen!
Weitere Vorstellungen am 5., 9., 17. Juni, 20 Uhr. Karten in der Buchhandlung Collibri, Austr., Tel. 30182710, und beim bvd, Tel. 98082-20, E-Mail info@bvd-ticket.de