Prozess gegen mutmaßlichen Vergewaltiger: "Du willst es doch auch"

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Foto: Arne Dedert/dpa
Foto: Arne Dedert/dpa

Ein 23-Jähriger aus dem Landkreis ist wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung angeklagt. Er soll sich an einer damals 16-Jährigen vergriffen haben, während seine Freundin ein Stockwerk darüber auf ihn gewartet hatte.

Johanna G.* (Namen wurden von der Redaktion geändert) sackt zusammen. Ihre Mutter streicht ihr über den Rücken. "Auch wenn es wehtut, wir müssen nachfragen", sagt Richter Matthias Göbhardt. Johanna schluchzt. Zwei Wochen lang hat sie jeden Abend geweint. Diese eine Nacht hat ihr Leben verändert. Früher war sie stark und selbstbewusst. Heute hat sie Angst. Jungs lässt sie seitdem nicht mehr an sich heran.
Sie zieht sich zurück, nimmt 15 Kilo zu, ist in psychologischer Behandlung. Johanna war 16 Jahre alt und zu Besuch bei einer Freundin als sich Simon L.* zu ihr ins Bett legte.

Simon senkt den Kopf. Die starken Arme stützt er auf die Anklagebank. Er schaut Johanna nicht an. Nicht als sie den Gerichtssaal betritt, nicht als sie mit verweinten Augen ins Publikum zwischen Mama und Freundin rückt, nicht als sie vor ihm sitzt und dem Gericht erklärt, warum sie heute eine verunsicherte, junge Frau ist: Es war ein Samstagabend im Mai 2014. Johanna war auf einem Dorffest mit zwei Freundinnen feiern. Eine von ihnen war Simons Schwester. Er selbst war auch auf dem Fest. Bei der Familie wollten alle übernachten. Die zwei Mädels gingen nach Hause, Johanna kam später nach. Simon zog mit einer Gruppe weiter in eine Disco. Zum Abschluss des Abends ging es in ein Striplokal. Als schließlich auch er nach Hause kam, war es bereits hell. Johanna schlief schon seit ein paar Stunden im Gästezimmer, als der damals 21-Jährige plötzlich in der Tür stand.


Massage als Vorwand?

Er wollte sie massieren, erzählt sie. Johanna erinnert sich genau: Er setzte sich auf sie, schob das T-Shirt hoch, griff immer wieder an den Po und nach vorn an ihre Brüste. "Er hat so nach Alkohol und Kippen gestunken. Ich hatte den Geruch noch ewig in der Nase", sagt Johanna bei der Befragung.

Irgendwann habe er auf ihre Bitten gehört und von ihr abgelassen. Keine Viertelstunde später soll er wieder zu ihr ins Bett gekommen sein. Diesmal nur noch in Boxershorts. Darunter eine Erektion. Er legte sich hinter sie, sagt Johanna leise. "Ich habe versucht, meine Beine zusammen zu drücken." Sie fühlte sich chancenlos. Schnell soll er ihr die Hose und den Slip heruntergezogen haben. "Du willst es doch auch", soll er mehr als einmal gesagt haben. Sie habe versucht, seine Hände von sich zu drücken. "Er kam mir so stark vor." Simon soll seine Hand zwischen ihre Beine geschoben haben, schließlich waren seine Finger in ihr. Immer wieder. "Es kam mir so ewig vor", sagt Johanna während sie sich Tränen von den Wangen wischt. Deutlich habe sie ihm gesagt, dass er abhauen soll. Erst als ein Bewegungsmelder das Licht im Flur aktivierte, dei er aus dem Bett gesprungen. Seine Freundin, die genau ein Stockwerk über den beiden auf Simon wartete, war auf der Suche nach ihm.


Gedächtnislücke nach Drink?

Simon erinnert sich an nichts von all dem, sagt er. Ihm fehle jegliche Erinnerung ab einem Drink in der Disco. Er meint, er habe einen Blackout und dass ihm vielleicht jemand etwas in den Becher gegeben habe. Der Richter hakt nach: Was hat es dann mit den Whatsapp-Nachrichten auf sich? In einigen Kurzmitteilungen, die zwischen Simon und Johanna in den Tagen danach hin und her gingen, entschuldigt er sich und wundert sich, ob es ihr nicht auch gefallen hätte. Logisch, meint er, er habe erfahren, dass etwas passiert sei und es Johanna nicht gut gehe. Nur verständlich, dass er sich entschuldigt, auch ohne zu wissen, für was genau.

"Sie sind ein Meister des Verdrängens", sagt der Richter. "Überlegen Sie sich, ob sie sich nicht etwas einreden. Sie wissen nicht, was auf dem Spiel steht." Mit Nachdruck rät er ihm, sich mit seinem Verteidiger zu beraten. Zwei Mal unterbrechen sie die Verhandlung. Simon bleibt dabei: "Ich kann Sie nicht anlügen und ein Geständnis machen. Ich bin dazu erzogen worden, die Wahrheit zu sagen."

Brüste oder Po, Simon L. langt gern einmal zu. Das meinen zumindest einige der Zeugen während der Verhandlung am Kissinger Amtsgericht. Ob er damit einen Spaß macht oder das Maß überschreitet? Katharina D.* ging es zu weit.

Nach seiner Schicht fuhr Simon L. zu ihr. Katharina hatte Geburtstag. Sie legten einen Film ein. Er machte sich an sie heran, wollte sie massieren, ihr wurde es zu viel, erzählt sie. "Ich hätte aus Prinzip nicht mit ihm geschlafen. Er hatte ja eine Freundin", sagt die heute 20-Jährige. "Du willst es doch auch", habe er gesagt. Zwei, drei Mal soll er probiert haben, seine Hand in ihre Hose zu schieben, sie versuchte ihn mit aller Kraft davon abzuhalten, erzählt sie.

Während Katharina dem Gericht von dem Abend erzählt, stiert Simon L. sie an. Kein Blickkontakt. Er zwinkert nicht, presst die Lippen aufeinander, schüttelt leicht den Kopf. Simon L. bebt innerlich. Der Angeklagte gab zuvor an, dass beide Lust aufeinander hatten. Das Malheur: Er konnte nicht. Schließlich schaffte es Katharina, sich wegzudrehen und er ließ von ihr ab, erzählt sie weiter. Die beiden klärten den Vorfall untereinander. Es sollte nicht mehr vorkommen. Für Katharina abgehakt. Nicht so für Johanna.

Der Vorfall im Gästezimmer verstörte sie. Einen Monat später zeigte sie Simon L. an. "Ich war am Boden und er macht weiter wie bisher", sagt sie. Das habe sie nicht ausgehalten. Am Morgen danach hatte sie noch mit Simons Mutter einen Kaffee getrunken, bevor sie sich auf den Heimweg machte.


Gästezimmer verfolgt Johanna

"Ich wusste gar nicht, was da passiert ist." Immer wieder hatte sie in den Tagen danach das Gästezimmer vor Augen. Sie konnte nicht schlafen. Ständig hatte sie das Gefühl, er liege hinter ihr. Johanna, die Kampfsport macht und sich eigentlich zu wehren weiß, kam nicht gegen ihn an. Am darauffolgenden Montag vertraute sie sich zuerst ihrem Bruder an. Der verpasst Simon L. direkt eine Abreibung.

Der heute 23-Jährige sitzt ruhig neben seinem Verteidiger und macht sich Notizen. Er schaut ernst und ist gefasst. Als der Staatsanwalt nach einem Verhandlungstag mit fast einem Dutzend Zeugenaussagen sein Plädoyer verliest, verliert die Familie von Simon L. in der linken Ecke des Publikums die Nerven. Die Frauen schluchzen. Der Staatsanwalt fordert vor dem Gericht, Simon L. für drei Jahre und einen Monat zu inhaftieren. Die Strafe für Vergewaltigung und sexueller Nötigung. "Es tut mir unendlich Leid, dass wir alle hier sitzen", sagt der unter Tränen. Er wisse zwar nichts mehr, will aber die Konsequenzen für das, was er getan hat tragen. Das Urteil des Gerichts wird am Montagnachmittag bekannt gegeben.