Nach 70 Jahren erstmals am Grab des Vaters

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1944 hat Jürgen Kindel - hier mit seiner Ehefrau Waltraud - seinen Vater in Großenbrach das letzte Mal gesehen. Nach 70 Jahren hat er endlich dessen Grab gefunden. Fotos: Edgar Bartl
1944 hat Jürgen Kindel - hier mit seiner Ehefrau Waltraud - seinen Vater in Großenbrach das letzte Mal gesehen. Nach 70 Jahren hat er endlich dessen Grab gefunden. Fotos: Edgar Bartl
Der Lingekopf war schwer umkämpft. 17.000 Soldaten sind her gefallen. Noch heute werden sterbliche Überreste geborgen.
Der Lingekopf war schwer umkämpft. 17.000 Soldaten sind her gefallen. Noch heute werden sterbliche Überreste geborgen.
 
15.400 tote Soldaten ruhen bei Niederbronn. Viele Kreuze sind in die Jahre gekommen und müssen ersetzt werden.
15.400 tote Soldaten ruhen bei Niederbronn. Viele Kreuze sind in die Jahre gekommen und müssen ersetzt werden.
 
Auf dem internationalen Soldatenfriedhof Metz-Cambiere ruhen mehrere tausend Gefallene der beiden Weltkriege aus sechs Nationen.
Auf dem internationalen Soldatenfriedhof Metz-Cambiere ruhen mehrere tausend Gefallene der beiden Weltkriege aus sechs Nationen.
 
Seit vielen Jahren engagiert sich Günter Petrick als Sammler für den Volksbund.
Seit vielen Jahren engagiert sich Günter Petrick als Sammler für den Volksbund.
 
Präsident Markus Meckel will den Volksbund fit machen für die Zukunft.
Präsident Markus Meckel will den Volksbund fit machen für die Zukunft.
 

Jürgen Kindel hat auf einem Soldatenfriedhof im Elsass jetzt die letzte Ruhestätte seines Vaters gefunden. Jahrzehnte nach den beiden Weltkriegen hat sich die Arbeit des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge noch nicht erübrigt. Jetzt sind wieder Spendensammler unterwegs.

Bad Kissingen/ Elsass — Der ältere Herr ringt um Fassung: Zum ersten Mal in seinem Leben steht Jürgen Kindel (74) aus Neuss am Grab seines Vaters. Der Oberfähnrich Fritz Kindel (36) war am 12. August 1944 bei einem Tieffliegerangriff bei Metz tödlich verwundet worden und hat seine letzte Ruhestätte auf dem gepflegten Soldatenfriedhof Niederbronn im Elsass gefunden. Hier sind 15 420 Tote des Zweiten Weltkrieges beigesetzt.
Wenige Tage vor dessen Tod hatte Jürgen Kindel seinen Vater das letzte Mal gesehen. Der damals vierjährige Junge und seine Mutter waren aus Düsseldorf vor den alliierten Bombenangriffen evakuiert worden. Sie hatten Aufnahme in Großenbrach gefunden. "Guck mal, da vorne ist der Papa", habe seine Mama gesagt, erinnert sich der Rentner. Aber: "Da kam ein fremder Mann, den ich nicht kannte." Nur wenige Tage später habe der Großenbracher Bürgermeister die traurige Nachricht überbracht: "Ihr Mann ist gefallen."
Jürgen Kindel ist noch längere Zeit bei Bad Kissingen geblieben. Dort hat er den Einmarsch der US-Army erlebt und gesehen, wie die GIs aus einer Metzgerei eine ganze Reihe von Würsten erobert haben.

Lange vergeblich gesucht

Zweimal habe er auf der Anlage die Ruhestätte seines Vaters gesucht. Vergeblich, weil ausgerechnet die Seite mit der Lagebeschreibung des Grabes im Friedhofbuch gefehlt hat. Jetzt aber wurden Jürgen Kindel und seine Frau Waltraud fündig.
Wie Fritz Kindel wurden Millionen deutsche Gefallene beider Weltkriege in Anlagen bestattet, die der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge (VDK) im In- und Ausland unterhält. Noch immer finden Zubettungen statt, noch immer werden die sterblichen Überreste von "Landsern" gefunden.
Das und die Pflege der Friedhöfe kostet Geld, das in Sammlungen "erbeten" werden muss. Deutschland sei das einzige Land, in dem sich eine private Organisation, ein Verein, um diese Aufgabe kümmert, sagt der Geschäftsführer des VDK-Landesverbandes Bayern, Gerd Krause. 70 Prozent des Etats stammten aus Sammlungen, "der Volksbund lebt von den Spenden". Der Bund steuere nur 30 Prozent der Ausgaben bei.
Die Bitte um Unterstützung verklinge meist nicht ungehört. Mehr als zwei Millionen Euro seien in Bayern 2013 so zusammen gekommen. Das zeige, so Gerd Krause, die enge Verbundenheit der Bevölkerung mit dem Volksbund. Diese Kollekten seien aber auch ein ganz wichtiges Element der Öffentlichkeitsarbeit.

Immer weniger Sammler

Nach seinen Angaben habe zwar die Spendenfreudigkeit etwas nachgelassen, sie sei aber immer noch sehr hoch. Allerdings: "Die Sammler werden weniger". Gerd Krause führt das unter anderem auf die Auflösung von Bundeswehrstandorten zurück. Vor allem Reservisten und die Traditionsverbände unterstützten den VDK nach Kräften.
Hier nimmt der Landkreis Bad Kissingen eine gewisse Sonderstellung ein: Soldaten des Hammelburger Offiziersanwärter-Bataillons und Beamte der Oerlenbacher Bundespolizei stellen sich regelmäßig in den Dienst der guten Sache.
Und auch "Veteranen" wie Günter Petrick (76) aus Pfaffenhausen, der sich seit fast 40 Jahren an den Sammlungen beteiligt. Auch jetzt engagiert er sich "selbstverständlich", weil er den Volksbund für "eine gute Sache" hält. Er hat nur gute Erfahrungen gemacht, wurde noch nie mit dummen Sprüchen an der Haustüre abgefertigt.

Im Durchschnitt zwei Euro

Das von ihnen zusammengetragene Geld - im Durchschnitt zwei Euro pro Spender - wird nicht nur für Umbettungen und Friedhofspflege verwendet. Der Volksbund unterhält auch vier Begegnungstätten. Eine davon ist die nach Albert Schweitzer benannte Einrichtung in Niederbronn. Es gibt sie - auch ein Jubiläum - seit 1994. Nach Angaben ihres Leiters Bernhard Klein sind 70 Prozent der fast 5000 Gäste aus mehreren Nationen "quer durch alle Bildungsbereiche" 15 oder 16 Jahre jung. Das Einzelschicksal sei "der Grundstein unserer Pädagogik". Und: Die Geschichte des benachbarten Soldatenfriedhofs "ist noch nicht fertig".
Das hat die Volksbundspitze längst erkannt. VDK-Präsident Markus Meckel, der letzte DDR-Außenminister und SPD-Politiker, will die Begegnungsstätten ausbauen, modernisieren und auch für andere Altersgruppen attraktiv machen. Denn die Soldatenfriedhöfe seien "immer weniger Orte der Trauer, denn der politischen Bildung". Hier solle auch "die mittlere Generation" stärker eingebunden werden. Insgesamt solle der Volksbund, auch in Deutschland, in Fragen der Erinnerungspolitik stärker auftreten. Hier bestehe, so Markus Meckel, eine "noch sehr gesplittete Erinnerungslandschaft". Die Dimension der Kriege und der Gewalt seien noch nicht wirklich präsent.

Gegen Rechtsradikalismus

Wilhelm Weidinger, der Vorsitzende des VDK-Landesverbandes Bayern, sieht das ähnlich. Er wolle für die Arbeit der Organisation das "Mittelalter" als Multiplikator für die Jungen gewinnen. Als zwei Beispiele nannte er Lehrer und Feuerwehr-Kommandanten. So will er auch rechtsradikalem Gedankengut entgegenwirken; "da hilft nur ganz konsequente und harte Friedenspolitik, um die Jugend zu impfen."
Auch nach Ansicht von Wilhelm Weidinger sind die Sammlungen unabdingbar. Es gehe schlicht darum, dass der Volksbund seine Arbeit fortsetzen könne. Dazu gehören nicht nur Umbettungen deutscher Gefallener zum Beispiel in Weißrussland. Auch die letzten Ruhestätten von Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg wollen gepflegt und in einem guten Zustand gehalten werden.

Massaker, statt "Spaziergang"

"Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos'" - angefeuert mit dümmlichen Parolen und durchdrungen von glühendem Patriotismus waren vor genau 100 Jahren viele zu den Fahnen geeilt, waren in Belgien und Frankreich einmarschiert. Der vermeintliche "Spaziergang" - bis Weihnachten wollte man wieder in der Heimat zurück sein - geriet zu einem Massaker. Junge Menschen aus zahlreichen Nationen kamen bis 1918 zu Tode. So etwa auf dem fast 1000 Meter hohen Hartmannsweilerkopf, dem "Mangeur d' hommes" (Menschenfresserberg). Hier wurde 30 000 Deutsche und Franzosen erschossen oder von Granaten zerfetzt.
Was die Männer erleiden mussten, wird auch am Lingekopf, einem Pass in den Vogesen, deutlich. In Rufweite lagen sich hier die kämpfenden Truppen gegenüber. Erhaltene Schützengräben und Unterstände vermitteln einen kleinen Eindruck von den blutigen Ereignissen zwischen September 1914 und Juni 1915. Noch heute sind Teile des Berges wegen Blindgängern gesperrt, noch heute werden hier die sterblichen Überreste Gefallener geborgen.  Seite 15