Musik als Spiegel des sprunghaften Denkens beim Kissinger Sommer

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Die finnische Sopranistin Anu Komsi und ihr Lands- und Ehemann Sakari Oramo, den man eigentlich nur als Chef des BBC Symphony Orchestra London kennt, beim Kissinger Sommer in der Erlöserkirche.
Die finnische Sopranistin Anu Komsi und ihr Lands- und Ehemann Sakari Oramo, den man eigentlich nur als Chef des BBC Symphony Orchestra London kennt, beim Kissinger Sommer in der Erlöserkirche.
Gerhild Ahnert

Die "Kafka-Fragmente" von György Kurtág sind immer noch von einer Aura der Rätselhaftigkeit umgeben. Man hätte keine authentischeren Interpreten finden können als die Sopranistin Anu Komsi und den Geiger Sakari Oramo, Chef des BBC-Symphony-Orchestra London

Eigentlich schade! Das war es nun, das letzte der drei Wandelkonzerte in diesem Kissinger Sommer - am nächsten Mittwoch zieht die Festivalkarawane in den Hof von Schloss Aschach. Denn eigentlich ist das ein entspanntes Konzept: Zwei Konzerte an einem Abend, die inhaltlich nichts miteinander zu tun haben. Und das müssen sie auch nicht, sonst könnte man ja gleich an Ort und Stelle bleiben. So hat man dazwischen ein bisschen Bewegung, kann sich stärken und kann sich vor allem in aller Ruhe auf das Kommende einstellen.

Dieses letzte Mal begann das Wandeln in der Erlöserkirche mit dem Auftritt eines Ehepaars: mit der finnischen Sopranistin Anu Komsi und ihrem Lands- und Ehemann Sakari Oramo, den man eigentlich nur als Chef des BBC-Symphony-Orchestra London kennt. Was weniger bekannt ist: Er hat nach seinem Studium seine Karriere begonnen als Geiger, als Konzertmeister des Finnischen Radio-Nationalorchesters in Helsinki. Und das hat er trotz allen Dirigierens halt einfach nicht verlernt.

Mitgebracht hatten die beiden ein Werk, das eine gewisse Einmaligkeit hat, das bei seiner Erstaufführung bei den Wittener Tagen für Neue Musik 1987 für Aufsehen sorgte, das sich bis heute nicht verflüchtigt hat: Die "Kafka-Fragmente" von György Kurtág. Sie sind immer noch von einer Aura der Rätselhaftigkeit umgeben. Da handelt es sich um 40 Tagebucheintragungen von Franz Kafka, die meisten in aphoristischen Minimalismus, sehr oft nur ein Satz, einmal sogar nur ein Wort: "Ruhelos". Nur wenige bewegen sich über die Ein-Minuten-Grenze.

Lieder möchte man sie eigentlich gar nicht nennen, obwohl sich Lieder nicht über die zeitliche Länge definieren. Es sind Texte, die Sakari Oramo als "moderne Winterreise" bezeichnete. Gedankensplitter, die tief in Kafkas Seele und Verfassung blicken lassen, die aber auch - und das macht ihren großen Reiz und ihre Anziehungskraft aus - ein enormes Assoziationspotenzial für den Zuhörer haben.

Begleitet und kommentiert werden diese Splitter von einer einzigen Violine - eine Verbindung, die die Einsamkeit in der Weite der Welt - und in der Weite des Altarraumes der Erlöserkirche - spürbar werden lässt. Weniger geht nicht. Aber die Intensität ist enorm.

Man kann dieses diffizile Werk nur aufführen, wenn man technisch verdammt gut ist und vor allem, wenn man dafür brennt. Und das tun Anu Komsi und Sakari Oramo. Man hätte keine authentischeren Interpreten finden können. Denn die beiden beschäftigen sich mit den "Fragmenten", seit sie vor 35 Jahren erschienen sind. Und sie haben sich den Segen von György Kurtág geholt, denn sie haben es mit ihm gemeinsam erarbeitet. Da hat der Komponist offenbar mal eine Ausnahme von seiner üblichen Zurückhaltung gemacht.

Natürlich ist das keine melodieverliebte Musik, sondern ein Spiegel des sprunghaften Denkens. So zerrissen wie dieses Denken sind auch die Töne. Nur in der "Szene in der Elektrischen", dem längsten Stück, taucht kurz ein bisschen Melodie auf, weil in dieser Straßenbahn zwei Geiger für die Tänzerin Eduardowa noch einmal einen Csárdás spielen. Aber ansonsten ist auch hier die Eingebildetheit der offenbar alternden Ballerina herrlich zerklüftet. Für Anu Komsi ist das alles natürlich eine enorme technische und gestalterische Herausforderung, die sie - das muss man wirklich sagen - bravourös meistert. Wobei ihr entgegenkommt, dass György Kurtág ganz dicht an den Texten entlang komponiert hat, dass sie in ihrer Höhe oder Lautstärke oder immer changierenden Klangfarbe Sinn machten.

Was die Sache natürlich auch leichter macht, ist die Begleitung der Violine, die, technisch außerordentlich anspruchsvoll, anspruchsvoller als so manches Violinkonzert, die Stimmungen grundierte, einleitete, fortsetzte, dem Gesang eine emotionale Basis, allerdings kein technisches Geländer gab.

Sakari Oramo hatte eine gute Mischung aus zurückhaltender Begleitung und entschiedenem Heraustreten gefunden. Und er spielte die schwierigen Doppel- und Dreifachgriffe mit erstaunlicher Ruhe, auch wenn sie hektisch werden mussten. Und mit viel Empathie für den Text variierte er die Klangfarben, die umso spannender gerieten, als er auf ein stärkeres Vibrato vollkommen verzichtete.

So fügten sich die 40 Einzelteile zu einem spannenden Ganzen. Man ließ sich von der Konzentration der Beiden einfangen und ertappte sich dabei, dass man sich zunehmend überlegte, wie wohl das nächste Stück klingen würde. Etwas Besseres kann Musik kaum passieren.