Orwells "1984" rückwärts erzählt: Die Welt von einer finsteren Seite gesehen

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Winston Smith (Benjamin Jorns) verliebt sich heimlich in Julia (Anna Schindlbeck). Foto: Sebastian Worch
Winston Smith (Benjamin Jorns)  verliebt sich heimlich in Julia (Anna Schindlbeck). Foto: Sebastian Worch

Orwells Roman "1984" ist aktueller denn je: Beim Theater Schloss Maßbach wird jedoch die Geschichte von hinten nach vorne erzählt. Christian Schidlowsky hat den Roman für die Bühne bearbeitet.

Der alte Johann Sebastian Bach hat die drei kompletten Jahrgänge seiner geistlichen Kantaten an den Evangelien-Lesungen des Kirchenjahres entlangkomponiert - wie zum Beispiel die berühmte Kantate "Jauchzet Gott in allen Landen" BWV 51, die für den 15. Sonntag nach Trinitatis konzipiert war. Aber das Titelblatt enthält einen seltenen Vermerk: "et In ogni Tempo", also: "und zu jeder Zeit". Für die 1730 komponierte Kantate bedeutete das, dass sie nicht nur an diesem festen Tag aufgeführt werden konnte, sondern auch zu anderen Gelegenheiten, wenn ein virtuoses Gotteslob oder allgemeiner Jubel gefragt und angebracht waren.

Was das mit dem Maßbacher Theater zu tun hat? Eine erschreckende Menge, obwohl Zeitlosigkeit ja eigentlich nichts Schlimmes ist. Als der Brite George Orwell (eigentlich Eric Arthur Blair) 1948 in London seinen letzten Roman schrieb, den er auf der mehr oder weniger verzweifelten Suche nach einem Titel schließlich "1984" nannte, ging es ihm um staatliche Indoktrinierung, Kontrolle und Gewalt.

Das Thema hat ihn sein kurzes, aber unstetes Leben schon sehr früh bewegt, denn er hatte einschlägige Erfahrungen gemacht - auf der "sicheren" Seite: Zwischen 1921 und 1926 lernte er als Kolonialpolizist der Indian Imperial Police im heutigen Myanmar Staatsgewalt und Unterdrückung kennen. Er kündigte und ging nach England, wo er zunächst ein recht chaotisches Leben führte, das sich allerdings immer mehr auf das Schreiben fokussierte. Bis er 1945 mit "Animal Farm" und 1948 mit "1984" den Schritt in die Bekanntheit und Etablierung schaffte. Zwei Jahre später ist er im Alter von 47 Jahren an Tuberkulose gestorben. Er hat den großen Erfolg seines letzten Werkes nicht mehr erlebt, der sich schon deshalb einstellte, weil er die Warnungen vor dem Stalinismus, vor der totalen Überwachung und staatlichen Repression in sehr griffige Sätze gefasst hat. "Big Brother Is Watching You", ist davon nur einer, aber der berühmteste.

Aus den Fugen geratene Welt

Und nicht zuletzt deshalb sitzt man jetzt etwas bedrückt in der Lauertalhalle und wartet, dass sich der Vorhang hebt. Denn man weiß, wie aktuell Orwells Roman immer noch oder wieder ist ("et In ogni Tempo") in dieser aus den Fugen geratenen Welt. Das Elend hat ja nicht erst mit dem Angriff auf die Ukraine begonnen, sondern schon vorher, auf der anderen Seite der Erde, wo der amerikanische Präsident Donald Trump vor über fünf Jahren damit begann, mit seinen legendären Fake News sich eine eigene, ihm genehme Realität zu schaffen. Was angesichts des Ukraine-Krieges fast untergegangen ist: Wladimir Putin, der "Overtrump", konnte da nicht dahinter bleiben. Er hat die Meinungsfreiheit in Russland per Gesetz und Strafregister komplett abgeschafft: Nicht der ist ein Kriegsverbrecher, der Panzer und Bomber gegen ein Nachbarvolk in Marsch setzt, sondern der, der den Krieg Krieg nennt.

In Verunsicherung getrieben

Und damit sind wir nun wirklich in der Lauertalhalle und mitten in der Geschichte. Denn der junge Winston Smith (Benjamin Jorns) arbeitet in einem Informationsministerium, in dem er die schriftlich dokumentierte Geschichte im Sinne des "Großen Bruders" so korrigieren oder verändern muss, dass sie in dessen Parteidoktrin passt. Sein Problem: Er lehnt das totalitäre System innerlich vollkommen ab und wird von einer in die andere, sich möglicherweise tödlich auswirkende Verunsicherung getrieben. Er merkt erst sehr (zu) spät, dass O'Brien (Marc Marchand) nicht sein Freund, sondern ein Gedankenpolizist und Spitzel der "Inneren Partei" ist. Wohl auch, weil der ihm ein Buch des Untergrundkämpfers Goldstein gibt.

Verrat, Mitgefangener und Scherge

Er verliebt sich heimlich in Julia (Anna Schindlbeck), obwohl sexuelle Kontakte verboten sind. Aber das Versteck beziehungsweise angeblich nicht überwachte Zimmer, das er von dem Kramer Charrington (Yannick Rey) bekommen hat, fliegt auf. Charrington gab ihm auch das Tagebuch, in dem er die Ereignisse in monatlichen Texten von Januar bis Dezember 1984 mit immer zittrigerer Schrift festgehalten hat. Und schließlich, unter der Folter, verrät er Julia auch, weil er sich selbst nicht mehr zu helfen weiß. Und dann auch noch Parsons (Yannick Rey), der als Mitgefangener wie auch als Scherge auftaucht. Am Ende, nach der letzten Gehirnwäsche und Folter (das sieht man fast alles nicht) verkündet Smith, dass er den Großen Bruder innig liebt. Aber soll man's glauben? Schließlich wartet er immer noch auf seine Erschießung.

Christian Schidlowsky hat den Roman übersetzt und für die Maßbacher Bühne bearbeitet - wobei er gegenüber dem Original eine wesentliche Veränderung vorgenommen hat: Er erzählt die Geschichte von hinten nach vorne. Er beginnt mit dem - aus der Sicht der Partei - geheilten und von O'Brien auf Linie gebrachten Winston Smith, der im Brustton der Überzeugung seine Liebeserklärung an den Großen Bruder abgibt, aber wohl irgendwo immer noch ein Türchen zur (Mit-)Menschlichkeit offenhält, obwohl er weiß, dass er die ganze Sache nicht überleben wird. Und so wird das eine Jahr in den Fängen de Mächtigen zu einem Bilderbogen der Erinnerung aus zwölf Monatsteilen, ein allmähliches Zurücktasten zu einer Welt, die noch zumindest ein bisschen besser war. Das macht die Sache insofern intensiver, als sie nicht von einem auktorialen Erzähler, sondern von einem Betroffenen unmittelbarer erzählt wird. Vielleicht wollte Christian Schidlowsky den Zuschauer auch mit dem besseren Ende in die Nacht entlassen, denn die Realität ist schon schlimm genug.

Auf jeden Fall aber setzt er damit sein spielendes Quartett enorm unter Druck. Denn das muss mehrere Sachen auf einmal schaffen: zum einen trotz des gewohnten hohen schidlowskyschen Tempos eine Atmosphäre der Bedrängung, des Terrors, der Scheinheiligkeit, der Enttäuschung, der Verzweiflung schaffen. Aber sie können diese emotionalen Linien nicht entwickelnd durchziehen im Sinne einer Steigerung, weil jeder dieser zwölf Bilderbogen als selbstständige Einheit sozusagen am falschen Ende endet. Sie müssen am Ende an dem Punkt ankommen, an dem der vorausgegangene begonnen hat - sozusagen "dramatische Entspitzung". Und es gibt keine Phase der Erholung.

Beklemmende Einengung

Aber die enorme Konzentration, die da gefordert ist, ist auch nötig im Umgang mit der Bühne. Robert Pflanz (Bühnenbild) hat mit Hannes Maar (Videos), Simon Zimmermann (Sound) und Jutta Reinhard (Kostüme) einen Raum geschaffen, der sofort beklemmende Einengung signalisiert. In dieser sich durch bewegliche Bühnenteile ständig verändernden Umgebung müssen sich die Schauspieler punktgenau bewegen, denn sie sie werden von mehreren Kameras beobachtet, deren Bilder auf drei großen Bildschirmen an den Wänden der Zelle zu sehen sind - und die somit auch den Zuschauer zum Überwacher machen. Und auf diese Monitore werden Bilder der Erinnerung von Winston Smith übertragen, die natürlich passen müssen. Und das ist in größter Konzentration ausgezeichnet gelungen. Wirklich eine tolle Leistung von allen.

Was für das Publikum neu ist: Man verlässt das Theater nicht gut gelaunt, entspannt und in Vorfreude auf den Nachtheaterschoppen. Man hat gerade die Welt von einer finsteren Seite gesehen. Aber draußen ist es auch nicht besser. "et In Ogni Tempo": Hoffen wir, dass wir das eines Tages von "1984" nicht mehr sagen müssen.