Auf der Achterbahn der Berliozschen Gefühle: Das hr-Sinfonieorchester Frankfurt war seit Jahren wieder beim Kissinger Sommer.
Es ist ein Orchester, das sich in den letzten Jahren beim Kissinger Sommer rar gemacht hat: das hr-Sinfonieorchester Frankfurt. Dabei gilt der Auftritt des Orchesters 2000 mit seinem damaligen Chefdirigenten, dem Amerikaner Hugh Wolff, unter den Stammbesuchern noch heute als einer der absoluten Höhepunkte der zurückliegenden 31 Jahre des Festivals. Jetzt hat es wieder einmal geklappt. Und auch noch zu einem interessanten Zeitpunkt: direkt nach der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Da drängten sich Vergleiche geradezu auf. Und auch die Frage: Wie hätten die Bremer das gespielt? Um es gleich vorweg zu sagen: Vom Handwerklichen und Virtuosen oder von der konzentrierten Ernsthaftigkeit her schenken sich die beiden Orchester nichts. Auch die Frankfurter zeigten sich in allen Registern allerbestens disponiert, machten das Zuhören zum nachwirkenden Vergnügen. Es waren interpretatorische und klangbildende Fragen, in denen sich beide unterschieden, der Zugriff der Orchester und die Auslegungen der Dirigenten: Paavo Järvi bei den Bremern und Andrés Orozco Estrada bei den Frankfurtern - der die Chefposition 2014 übrigens ausgerechnet von Paavo Järvi übernommen hat (der ist heute Ehrendirigent der Frankfurter). Engere Beziehungen sind kaum möglich.
Am Anfang sah es noch so aus, als würden die Bremer mit ihrer Spontanität die Frankfurter abhängen, denn Ludwig van Beethovens Egmont-Ouvertüre geriet in ihrer Ausstrahlung indifferent. Andrés Orozco Estrada dirigierte elegant, und genauso elegant und klangschön spielte das Orchester - also auch ein bisschen neutral. Natürlich waren die dramatischen Linien da und erkennbar, aber was fehlte, waren die letzten Zuspitzungen, die harten Konflikte. Und auch die Wirkung der berühmten Generalpause kurz vor Schluss, vor der mit dem Abreißen des Themas der Kopf des aufmüpfigen Grafen in den Korb fällt, war ein bisschen verschenkt.
Hinreißend und souverän
Aber der Eindruck änderte sich sofort mit Robert Schumanns berühmtem, weil erstaunlicherweise einzigem Klavierkonzert a-moll. Das hat die tradierten Strukturen weitgehend verlassen, auch wenn eine Dreisätzigkeit im Kern noch zu erkennen ist. Was Schumann hier geschrieben hat, ist eine groß angelegte Fantasie, in der nicht das Klavier, sondern das Orchester die Hauptlast zu tragen hat. Und das tat es hinreißend souverän, mit starken Differenzierungen, mit großer struktureller Klarheit, die Verbindungslinien schuf, mit wunderschönen Angeboten an den Solisten, mit einem Zugriff, der den Begriff der deutschen Romantik selbsterklärend werden ließ.
Von wem man sich eigentlich etwas mehr erwartet hatte, war Krill Gerstein. Nicht weil der heute 38-jährige Amerikaner aus Woronesch - er kam 1991 in die USA -den 3. Preis bei der 1. Kissinger Klavier-Olympiade 2003 gewann, sondern weil er international hoch gehandelt wird. Wirklich klar machen konnte er das nicht. Und nicht nur, weil er am Anfang einige Probleme hatte, sich in das Orchester hineinzubegeben, sich auf es einzuschwingen. Sondern weil er in seinem Anschlag und in seiner Expressivität sehr verhalten blieb. Es war eigentlich nichts Persönliches in seinem Spiel zu erkennen. Was Gerstein wirklich gut machte, war das Eintauchen in das Orchester als eine zusätzliche Klangfarbe. Da ließ er sich einfangen, behielt aber die Nase über der Oberfläche. Wo er mehr als nur Nase hätte zeigen müssen, war vor allem in den geradezu intimen Dialogen mit einzelnen Instrumenten im zweiten Satz. Zwar war er da wirklich dem Orchester zugewandt und reagierte präzise. Aber im Gegensatz zu den Vorlagen blieben seine Antworten im gleichmäßig Neutralen, blieb die Inspiration im Hintergrund. Da wurde er manchmal auch Opfer seiner nicht immer ganz verständlichen Pedalspiele, das manche gewünschten Effekte zunichte machte.
Noten im Flügel
Vermutlich war es unerheblich, dass Kirill Gerstein ein Tablet mit seinen Noten im Flügel liegen hatte. Wer wirklich darauf angewiesen ist und sich seine Noten auf dem Display erst zusammensuchen muss, kommt immer zu spät. Aber es zerfasert auch die Konzentration, weil sich immer etwas bewegt. Und es zertrümmert die Vision des begnadeten Virtuosen, der seine Eingebungen aus sich selbst oder aus dem Äther bezieht.
Und dann Hector Berlioz' "Symphonie fantastique". Die Aufführung hatte das Zeug dazu, im Rückblick Kultstatus zu erlangen. Andrés Orozco-Estrada geriet mächtig unter Druck, weil er nichts auslassen wollte. Und das Orchester ging seine Tour de force mit. Je weiter die Sinfonie fortschritt, desto grotesker, desto überwältigender wurde sie. Auch wenn sie verhalten begann, indem sie zeigte, wie die Musik sich aus lauter kleinen Impulsen entwickelt, einem Adventskalender gleich, an dem neue Türchen geöffnet werden. Aber Andrés Orozco-Estrada machte auch hier schon, auch in der Arbeit mit den Motiven, deutlich, dass es heiter nicht weitergehen konnte - auch wenn das Orchester erst einmal zum Ball lud. Hier war bestens die Doppelbödigkeit zu erkennen: die routinierte allgemeine Walzerseligkeit gegen die von Liebeskummer zerfressene Seele des Komponisten. Eine echte, wen auch später nachhaltig getrübte Idylle war die "Scène au champs", die Flucht aus der Realität. Den Dialog zwischen Hirtenoboe - aus dem Off der Garderobe - und dem Englischhorn kann man nicht schöner spielen, nur anders, vielleicht.
Und dann ging's wirklich zur Sache auf der Achterbahn der Berliozschen Gefühle. Mit der unentrinnbaren Brutalität des Ganges zum Schafott mit den berühmtem gnadenlosen Glockenschlägen und dem an- und abschließenden "Songe d'une nuit du Sabbat", dem Traum einer Sabbatnacht - wobei man das "Hexen-" noch vorne dranhängen konnte - mit seinem überwältigenden Dies-irae-Motiv in den doppelten Tuben erreichte die Musik die Katastrophe. Andrés Orozco-Estrada tanzte wie ein überdrehter Derwisch. Aber er holte auch alles aus dem Orchester mit größter Klarheit heraus: faszinierende fahle Klangfarben bis zu klirrender Kälte, das Klappern der Knochen der tanzenden Skelette, die Welt vor dem Einsturz. Da war eine Intensität, die die Zuhörer an ihre Grenze bringen konnte.
Und plötzlich bekam man einen Eindruck davon, wie geradezu verstörend diese Musik auf Berlioz' Zeitgenossen gewirkt haben muss, wie überfahren sie sich von ihr gefühlt haben müssen, von diesen völlig neuen Klängen, von dieser Wucht, auch von dieser Aggressivität. Man muss sich ja nur kurz überlegen, wie andere Komponisten ihre Sinfonien schrieben. Glücklicherweise ist die Aufführung vom oder für den Hessischen Rundfunk aufgenommen worden. Man hat also die Chance, sie noch einmal zu hören. Man sollte sie sich nicht entgehen lassen.