Man fragte sich, warum die Tschechische Philharmonie 36 Jahre gewartet hat, bis sie dieses bemerkenswerte und höchst attraktive Konzert zum Kissinger Sommer mitbrachte. Aber eigentlich war es das Konzert von Geigerin Isabelle Faust
Die Tschechische Philharmonie gehört zum Inventar des Kissinger Sommers. Das Orchester aus Prag war von Anfang an dabei und kam in den ersten 20 Jahren regelmäßig, meistens für zwei Konzerte, in den Regentenbau. Dann wurden die Besuche etwas seltener, aber sie rissen nie ab. Und so waren sie jetzt wieder da, mit Petr Popelka als Gastdirigent. Im Brotberuf ist er Chefdirigent des Norwegischen Rundfunkorchesters Oslo und Erster Gastdirigent der Janáček-Philharmonie Ostrava.
Man konnte als Kissinger-Sommer-Besucher die Entwicklung des Orchesters ein bisschen miterleben, die sich vor allem in den Dirigenten zeigte. 1986 war noch Václav Neumann Chefdirigent, der auch nach Bad Kissingen kommen wollte, dann aber absagen musste. Auf ihn folgten Jiří Bělohlávek, Gerd Albrecht, Vladimir Ashkenazy, Zdeněk Mácal, Eliahu Inbal, noch einmal Jiří Bělohlávek und, seit 2018 Semjon Bychkow.
Das sind ein bisschen viele Namen. Sieben Wechsel in 32 Jahren - das entspricht einer durchschnittlichen Verweildauer von 4,5 Jahren. Da fällt es schwer, Kontinuitäten zu entwickeln. Und es gab ja auch ziemliche Turbulenzen: etwa 1993, als man Gerd Albrecht holte, weil man sich von ihm als Mann aus dem Westen lukrativere Plattenverträge versprach. Die Hoffnung hielt nur drei Jahre. Und Gerd Albrecht war auch deshalb umstritten, weil er der erste Deutsche am Pult des Orchesters war.
Und jetzt also die Tschechische Philharmonie mit Petr Popelka und der Geigerin Isabelle Faust. Das Programm hätte tschechischer nicht sein können: Bedřich Smetanas "Aus Böhmens Hain und Flur" aus dem wohl unverzichtbare "Ma Vlást" ("Mein Vaterland"), durch das auch die Moldau fließt; das 2. Violinkonzert von Bohuslav Martinů und schließlich Antonín Dvořáks 7. Sinfonie. Für das Prager Orchester hätten das eigentlich drei Heimspiele sein müssen. Aber man erlebte mal wieder zwei Konzerthälften.
Man ist immer wieder überrascht, wenn man den naiven Titel "Aus Böhmens Hain und Flur" liest und dann, wenn die Musik einsetzt, geradezu erschrickt, wie laut es in diesen Hainen und Fluren zugeht. Aber für Smetana war dieser Satz das in Musik gefasste erwachende Nationalgefühl seiner Landsleute, und da kann es auch schon mal zur Sache gehen im Überschwang. Nur gelang es Petr Popelka nicht, der Lautstärke eine euphorische Dimension zu geben, sondern sie geriet außerordentlich aggressiv. Vielleicht wäre es besser geworden, wenn die Musiker immer mal zu ihm geschaut hätten. Aber das ist halt das Los der Gastdirigenten, dass sie bei Werken, die man "drauf" hat, gerne für überflüssig oder vielleicht auch störend gehalten werden. Natürlich gab es im Mittelteil auch lyrische Ecken, bis zum Ende das krachende Nationalgefühl wieder die Herrschaft übernahm. Aber insgesamt muss sich das Orchester, das sich gerne als Gralshüter des weichen böhmischen Klangs feiern lässt, schon fragen lassen, wie das zusammenpasst.
Martinůs 2. Violinkonzert, das beim Kissinger Sommer seine Premiere feierte, war in zweierlei Hinsicht eine Entdeckung. Zum einen ist das eine wunderschöne Musik mit einem enormen Spannungs- und Gestaltungspotenzial. Zum anderen war nach langer Zeit - man kann ruhig sagen: endlich - die Geigerin Isabelle Faust mal wieder da. Und es zeigte sich: Das war ihr Konzert.
Sie steuerte mit unbestechlicher Souveränität durch die Klippen enormer technischer Anforderungen, sie gab ihrem Spiel den Eindruck der Selbstverständlichkeit, entwickelte lange Spannungsbögen. Sie zeigte, dass es eine Spätromantik gibt, die nicht überholt ist, die immer noch Emotionen transportiert. Und sie machte dem Orchester viele Angebote.