Und das wird von Damian Scholl auch spannend gemacht. Wenn Amor am Anfang auftaucht, um Orpheus den Weg zu bereiten, dann erscheint er in einem Pizzicato: "In dieser Szene stelle ich eine Nervosität dar. Für mich ist das ja letztlich eine Wahnvorstellung, die Orpheus hat, da runter in den Hades zu gehen und seine Geliebte zu suchen. Der Mann muss eigentlich eine Therapie machen. Der ist am Rande zum Wahn, und das möchte ich auch musikalisch ausdrücken."
Kein trockenes Konzert
Wobei er sich da nicht nur auf die musikalischen Mittel stützt, denn es gibt Momente, in denen er Glucks Orchester verlässt: "Ich musste mir überlegen, wie ich nach den Kürzungen eine eigene Dramaturgie bekomme. Und ich habe schon recht früh die Entscheidung getroffen, auch ein Zuspiel vom Band zu nehmen, dass ich ein eigenes Sound-Design mache, sprich, damit auch eine Art Kinogefühl erzeugen möchte." Denn es soll kein "trockenes Konzert" werden, sondern der Zuhörer soll durch die Psychologisierung in die Seele des Orpheus hineingezogen werden.
Vermutlich würde Gluck seine Oper in der neuen Fassung wiedererkennen, auch wenn er stutzen würde. Damian Scholl: "Also, seine Sachen kürze ich nur, aber ich dekonstruiere sie nicht. Ich greife an manchen Stellen auch künstlerisch noch mal ein, aber nie dekonstruierend, und ich mache nie eine Kommentierung aus heutiger Sicht, sondern ich überhöhe dann vielleicht noch mal Gefühlsausdrücke, was ja auch im Sinne Glucks wäre."
Andererseits: Der erste Teil ist quasi fertig. Den zweiten Teil will der Komponist noch überdenken: "Da wird es wirklich happig mit der Eurydike, die dann immer dazwischen quäkt. Da muss ich schauen, was ich mit reinnehme und was nicht. Es könnte auch wirklich sein, dass dann da mehr Scholl drin ist als in der ersten Hälfte."
Auch in seinen "Orpheus Reflections" konzentriert sich Damian Scholl ganz auf die Hauptfigur: "Ich erfinde mich hier jetzt ja auch nicht neu. Mein musikalischer Stil: Ich nehme einfach nicht viel Material. Ich lasse die Dinge lange stehen, ich lasse den Menschen Zeit, das Gehörte auf sich wirken zu lassen. Da ist in diesem Fall eine einfache absteigende Sekund, die sich immer und immer wieder wiederholt. Die Menschen haben Zeit, sich da reinzuhören und das Gehörte mit seiner Suggestivkraft auf sich wirken zu lassen."
Kämen auch Zuhörer auf die Orpheus-Problematik, die kein Programm gekauft haben? Scholl meint: ja - wenn sie den Orpheus-Mythos kennen: "Da ist das emotionale Wechselbad, die Dramaturgie, die dahintersteht, erst den Verlust zu haben und dann den Wahn, der sich steigert." Der Unterschied: Die "Reflections" enden mit dem berühmten "Che farò senza Euridice?" ("Was werde ich ohne Eurydike tun?") Bei Gluck erscheint die Arie zwar auch im letzten Akt, als die Geliebte wieder im Hades verschwindet, aber da läutet Amor dann das Happy End ein: Er holt Eurydike wieder nach oben. Damian Scholl: "Das halte ich, ehrlich gesagt, für eine Schwäche der Oper. Mich überzeugt das nicht, dass wir dann alle wieder tanzen." Aber das war damals wohl so gewünscht.
Natürlich sind Komponisten immer unter Zeitdruck, vor allem, wenn sie selbstkritisch sind und alles immer noch ein bisschen besser machen wollen. Bis Mitte Mai sollten die Musiker die Noten haben. Dann kann Scholl nur noch auf den 6. Juli warten. Er ist ein bisschen nervös, wie die Kissinger die beiden Werke aufnehmen werden. Und es ist gut, dass es sie gibt, denn Orpheus ist nicht nur eine Gestalt des Wahns: "Orpheus ist eine Metapher für die Musik schlechthin, die die Menschen und Götter rührt und die die Tiere bändigt." Die Konsequenz: "Deshalb muss die Orpheus-Geschichte immer wieder komponiert werden, die Geschichte von einem, der es schafft, die Welt mit Tönen zu verändern."
Der Komponist
Damian Scholl, 1988 in Schweinfurt geboren, arbeitet als Komponist von sowohl zeitgenössischer Konzertmusik als auch Film- und Theatermusik. Schon im Kindesalter entdeckte er die Welt der Klänge für sich und begann mit dem Versuch, diese in Noten zu bannen. Während der Schulzeit wirkte er als Geiger, Bratschist und Komponist in verschiedenen Ensembles mit.
Nach dem Kompositionsstudium an der UdK Berlin bei Walter Zimmermann, das durch einen Studienaufenthalt in Glasgow angereichert wurde (Unterricht bei David Fennessy), absolvierte Damian Scholl den Master in Filmmusik an der Filmuniversität "Konrad Wolf" in Potsdam-Babelsberg.
Zu seinen jüngsten Erfolgen zählen der 1. Preis beim Deutschen Musikwettbewerb 2015 sowie der WDR Filmscore Award 2015. Kompositionsaufträge erhielt er unter anderem vom Deutschlandfunk, dem Deutschen Musikrat, den Ludwigsburger Schlossfestspielen und dem Kissinger Sommer.
Für Filmpreis nominiert
Im Sommer 2017 wurde er zur AYE Composer's Week nach Bangkok eingeladen, die von Prof. Dieter Mack und Peter Veale betreut wurde. Mit dem Dokumentarfilm "Beuys" von Andres Veiel, der seine Premiere im Rahmen des Wettbewerbs der Berlinale 2017 feierte, erhielt Scholl als Filmkomponist große Aufmerksamkeit. Die Musik, die in Kooperation mit seinem Kollegen Ulrich Reuter entstanden ist, wurde 2018 für den Deutschen Filmpreis ("LOLA") nominiert und hat den Dokumentarfilmmusikpreis des Dokfest München gewonnen.
Damian Scholls Werkkatalog zeitgenössischer Musik beinhaltet Werke für Soloinstrumente, verschiedene Ensemblebesetzungen, darunter eine Kammeroper, sowie für symphonisches Orchester. Seine Konzertwerke wie Filmmusiken zeichnen sich durch ihre subtile Abseitigkeit, Klangfreude und Empfindsamkeit aus. Scholl ist Mitglied der Deutschen Filmakademie, der GEMA und Alumnus der Studienstiftung des deutschen Volkes.
Der Komponist lebt und arbeitet heute in Berlin.
Worum es eigentlich geht
Das Stück "Orfeo ed Euridice" ist eine Oper in drei Akten, die die Geschichte des thrakischen Sängers Orpheus erzählt. Musik: Christoph Willibald Gluck, Libretto: Ranieri de' Calzabigi. Die Uraufführung fand am 5. Oktober 1762 in Wien, die der französischen Zweitfassung am 2. August 1774 in Paris statt.
Die Handlung Gemeinsam mit Hirten und Hirtinnen beweint Orpheus den Tod von Eurydike, seiner Geliebten. Als er die Götter um Gnade bittet, erscheint Amor, der Liebesgott, der ihm erklärt, dass Göttervater Zeus dem Sänger den Abstieg in den Hades erlaube: Wenn es ihm gelingt, die Furien dort mit seinem Gesang zu rühren, darf er Eurydike wieder zu den Lebenden zurückführen - aber unter der Bedingung, dass er sich beim Rückweg nicht zu ihr umsieht. Orpheus nimmt seine Leier und macht sich auf den Weg.
Dem Sänger gelingt es erst durch hartnäckiges Spielen und Singen, die Wächter des Hades (Cerberus) zu besänftigen, die ihn schließlich einlassen. Orpheus betritt das Elysium, die Heiterkeit der seligen Geister umfängt ihn, doch er kann seine Unruhe erst ablegen, als seine Gattin, von den Klängen seiner Leier angelockt, erscheint. Er schließt seine Augen und dreht sich um, nimmt sie an der Hand und läuft hinaus, ohne sich umzusehen.
Als sie fast ans Tageslicht treten, klagt Eurydike, dass ihr Mann sie nicht ansehe, also nicht mehr liebe und sie lieber in die Unterwelt zurückkehren wolle. Orpheus kommt nicht umhin, sich umzudrehen, und in diesem Moment bricht sie zusammen. Erneut beklagt er sein Leid und will sich erstechen, aber Amor entreißt ihm den Dolch und holt Eurydike zurück ins Leben. Happy End.
Tja, wenn ein Thomas Ahnert schreibt, dann kann man jeden Artikel lesen und genießen. SCHREIBEN IST EBEN NICHT SCHREIBEN❗❗Leider sterben diese Genies immer mehr aus. Danke für den Artikel ❗👍