Chen Reiss war ein souveräner "Ersatz"

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Elisabeth Brauß (links) und Sopranistin Chen Reiss, am Pult ist Ruben Gazarian. Foto: Thomas Ahnert
Elisabeth Brauß (links) und Sopranistin Chen Reiss, am Pult ist Ruben Gazarian.  Foto: Thomas Ahnert

Der Kissinger Sommer hat seine erste Absage eingefangen: Die Sopranistin Anna Lucia Richter konnte nicht, und so hörte man die Sopranistin Chen Reiss.

Davor ist kein Festival gefeit: dass Künstler im letzten Moment ihren Auftritt absagen, auch wenn sie das nur sehr ungern tun und alles versuchen, um trotzdem noch auftreten zu können. Instrumentalisten haben es da besser: Mit einer Erkältung kann man immer noch Klavier spielen. Bei den Sängerinnen und Sängern ist das schwieriger. Und so hat sich der Kissinger Sommer 2017 seine erste Absage eingefangen: Die Sopranistin Anna Lucia Richter konnte nicht zu dem Konzert "Liebesgeschichte" mit dem Württembergischen Kammerorchester Heilbronn kommen.
Aber ein Ersatz - ein etwas unschöner Begriff in diesem Zusammenhang - ließ sich noch rechtzeitig auftreiben: die israelische Sopranistin Chen Reiss, die an der Münchner und Wiener Staatsoper ihre Karriere begonnen hat und, jetzt freischaffend, international unterwegs ist. In Bad Kissingen war sie übrigens schon einmal: vor ein paar Jahren beim Neujahrskonzert des "Winterzaubers" mit den Berliner Symphonikern. Da war sie noch nicht ganz so berühmt.
Von Ersatz konnte man auch deshalb nicht sprechen, weil Anna Lucia Richter und Chen Reiss völlig verschiedene Stimmen haben, sie sie aber beide für Mozart prädestiniert. Bei Anna Lucia Richter ist es der leichte Stimmtypus, der dem Gesang eine gewisse Schwerelosigkeit und Luftigkeit gibt. Chen Reiss' Stimme ist ein bisschen fülliger, substanzieller, dunkler timbriert.


Gesungene Psychologie

Was sie nicht daran hindert, absolut beweglich, mit sicherer Intonation und völlig problemlosen Registerwechseln zu singen. Das macht sie zu einer souveränen Gestalterin, die innere und äußere Dramatik wirklich gestalten kann, wie bei den beiden Mozartarien "Quando avran fine omai ... Padre, germani, addio" aus "Idomeneo" und "S'altro che lagrime" aus "La clemenza di Tito", zwei Arien über einen Loyalitätskonflikt und überflüssiges Mitleid. Da stieg sie tief ein in die gesungene Psychologie, was sie auch deshalb sehr gut konnte, weil sie die Rezitative wirklich zur einstimmenden Vorbereitung nutzte.
Das Orchester war von dem Wechsel vielleicht ein bisschen überrascht. Man hätte sich von ihm eine weniger routinierte, dafür emotional stärkere Begleitung gewünscht, Phrasierungen, die sich der Stimme stärker annähern, die nicht ganz so abgebrochene, harte Phrasenschlüsse. Das hätte den instrumentalen Aspekt der beiden Arien stärker nach vorne geholt. Und dann kam der Auftritt, den sich die 22-jährige Elisabeth Brauß mit ihrem Sieg beim Kissinger KlavierOlymp 2016 erspielt hatte: Sie war die Solistin bei Mozarts Klavierkonzert Es-dur KV 271, dem "Jenamy-Konzert", seinem virtuos anspruchsvollsten. Der bleibende Eindruck war ein zwiespältiger, weil man sich fragte, ob es im Vorfeld irgendeine gestalterische Absprache gegeben hat.


Mehr ein Nebeneinander

Elisabeth Brauß schien auf Nummer sicher zu gehen, spielte die beiden Ecksätze sehr schnell, vor allem den letzten, bei dem sie das Tempo vorlegen konnte, verzichtete aber auf größere agogische Feinheiten. Denn Ruben Gazarian war gut damit ausgelastet, mit seinem Orchester Anschluss zu halten. Dafür war der zweite Satz extrem langsam bis knapp vor dem Reißen der Spannung. Natürlich gab es da wunderbare Momente im Dialog des Klaviers mit den einzelnen Stimmen. Aber insgesamt war der Eindruck des Nebeneinanders stärker als der des Miteinanders.
Das war vollkommen anders bei der selten aufgeführten Konzertarie "Ch'io mi scordi di te" für Sopran, Klavier und Orchester. Da fanden Stimme und Klavier zu einer wunderschönen Einheit, da konnte sich auch das Orchester als gestaltendes Element in Szene setzen. Da bekam die Musik einen so leichten, gut kontrollierten tänzerischen Schwung, dass sie ein bisschen abhob.
Die Erdenschwere kam freilich zurück bei der 5. Sinfonie von Felix Mendelssohn-Bartholdy, der so genannten "Reformationssinfonie", die er als 20-jähriger für die Feierlichkeiten zu "300 Jahre Confessio Augustana" aus eigenem Antrieb geschrieben hat, die aber dann da nicht gebraucht wurde. Mendelssohn hat sie zwar zwei Jahre nach dem Jubiläum in Berlin aufgeführt, aber nie in Druck gegeben: Sie war ihm zu unreif. Sie erschien erst 21 Jahre nach seinem Tod. Mendelssohn hatte Recht. Er hatte vorher schon Besseres komponiert. Am besten ist der Schlusssatz, in dem die Flöte fast ein bisschen verloren das Thema des Lutherchorals "Ein feste Burg" anstimmt und sich in einem mehrfachen Fugato die anderen Stimmen allmählich anschließen bis zum triumphalen Schluss. Das war sehr engagiert und zupackend musiziert. Aber am Ende vermisste man dann doch bei den Streichern eine größere Besetzung. Der reformatorische Druck dieser Musik wäre dann sicher noch stärker zur Geltung gekommen.